Ein Exklusivinterview mit Carlos Fuentes über kulturelle Identität, Globalisierung und die Perspektiven Lateinamerikas

Mit dem 74-jährigen Carlos Fuentes konnten die balearische Regierung und Ibatur einen leidenschaftlichen Mallorca-Urlauber für einen Vortrag im Rahmen des schon zum dritten Mal veranstalteten Meinungsforums „Futurisme“ über die Zukunft des Tourismus gewinnen. Der mexikanische Literat, Diplomat und Essayist, seit Jahren Stammgast des Hotels Formentor („Das ist das Paradies“), sprach im Club de Pollença über das Thema „Globalität und Identität“. Am Vortag gewährte er der „Mallorca Zeitung“ ein exklusives Interview.

MZ: Globalisierung und Nationalismus sind zwei gegenläufige, immer stärker werdende Phänomene. Laufen sie auf ein gesundes Gleichgewicht oder eine Explosion zu?

CF: Ich will optimistisch sein und sage Gleichgewicht. Es gibt da eine Formel: Das Globale ist nichts wert, wenn es nicht lokal konkreten Nutzen bringt. Aber das Wort „Nationalismus“ gefällt mir in diesem Zusammenhang nicht. Manchmal geht es um Regionalismus, Lokalismus, ein Dorf, einen Eingeborenenstamm, eine Gemeinschaft von Immigranten – sie alle können kulturelle Identität manifestieren. „Nationalismus“ sagt entweder zu wenig oder zuviel.

MZ: In Ihrem Buch „Der vergrabene Spiegel“ bezeichnen Sie das Mittelmeer als “kulturelle Arena Spaniens”. Welche Vorstellung läuft da gerade?

CF: Eine schreckliche. Die zwei semitischen Brüdervölker bekriegen einander. Der Osten des Mittelmeers blutet, und das wird die gesamte mediterrane Region rot beflecken.

MZ: Kulturelle Identität schlägt manchmal direkt auf die Wirtschaft durch, etwa wenn Frauen die Teilnahme am wirtschaftlichen Leben erschwert oder verboten wird. Inwieweit sollten diese Kulturen die Konsequenzen ihrer Identität selbst ausbaden?

CF: Keine kulturelle Norm rechtfertigt die Demütigung und Entrechtung der Frau. Ich denke an Praktiken in Schwarzafrika und in muslimischen Ländern, aber auch in meiner Heimat wird die Frau „ausgemergelt“, zu Arbeiten gezwungen, die sie früh altern lassen und demütigen. Wenn sie gleiche Chancen haben, sind Frauen dem Mann in vieler Hinsicht überlegen. In Bangladesh vergibt eine Bank für Arme 95 Prozent der Kredite an Frauen, weil diese wesentlich zuverlässigere Schuldner sind als Männer.

MZ: Lateinamerika steht wieder einmal vor einer gewaltigen Wirtschaftskrise. Sie haben geschrieben, die politischen Systeme der Region seien „eingeklemmt zwischen den Chicago Boys und den Marx Brothers“. Mexiko habe zuviel, Argentinien zuwenig Staat entwickelt. Wo ist das Modell für die Zukunft? Costa Rica?

CF: Zu winzig. In Lateinamerika muss die Gesellschaft von unten her aufgebaut werden. Wir haben in unseren Menschen ein gewaltiges Kapital, auf das wir zu wenig setzen. Man schreit immer nach ausländischen Investoren und dem International Monetary Fund, dabei liegt die Antwort innerhalb, nicht außerhalb unserer Länder.

MZ: Dort liegt aber auch eines der Kernprobleme. Wird sich die dünne Schicht der Reichen und Mächtigen ihre Privilegien nehmen lassen, um eine gerechtere Gesellschaft zu erlauben?

CF: Auch darauf gibt es eine Antwort: Wenn diese Schicht verarmt, auf jeden Fall. Armut schafft keine Märkte. Eine moderne, leistungsfähige Wirtschaft braucht ein gesundes, wohlhabendes, gebildetes Volk, braucht einen funktionierenden Markt im eigenen Land, sonst schlägt die Armut auch nach oben durch. Sie wären verblüfft, welche Ansichten die neuen Unternehmer Lateinamerikas hegen. Die nehmen diese Frage anders wahr als ihre Vorgänger. Sie stellen sich ihrer Verantwortung und engagieren sich sozial. Einer der reichsten Männer Mexikos hat gerade ein ganzes Berggebiet gekauft, um die Natur zu schützen.

MZ: Die USA und Lateinamerika sind auf ähnliche Weise entstanden, nämlich zunächst als Kolonien europäischer Großmächte. Heute sind die USA eine Supermacht, Lateinamerika torkelt von einer Krise in die nächste. Was ist schiefgelaufen?

CF: Die Siedler des Nordens waren Verstoßene, man könnte sagen „Unternehmer-Dissidenten“. Ihr protestantischer Hintergrund ließ sie das Schaffen von Reichtum als gottgefällig sehen. Im Süden regierten die Gesetze des mittelalterliche Katholizismus. All die Schätze der Incas und Azteken, die die Spanier nach Hause brachten und dort zunächst für unglaublichen Reichtum sorgten, befanden sich zweihundert Jahre später in London, Amsterdam und Bremerhaven, weil die Spanier damit Schulden abzahlen mussten. Das sagt wohl alles.

MZ: Ein Sprichwort sagt: Armes Mexiko, so weit weg von Gott, so nahe bei den Vereinigten Staaten. Auch Sie sparen nicht mit Kritik am nördlichen Nachbarland.

CF: Die USA haben sich in ein gigantisches Albanien verwandelt, sie interessieren sich nur noch für sich selbst.

Mallorca Zeitung Nr. 117, August 2002