Merian-Reportage über den Weitwanderweg GR 211 durch die mallorquinische Gebirgskette Tramuntana (Originaltext)

Der Weg beginnt am Yachthafen von Port d’Andratx und endet in Pollença bei einer intakten Römerbrücke. Er führt vorbei an Stränden, an Luxusvillen, Gutshöfen, Felsklippen, an einem Friedhof voller Künstlergräber, an einem Stausee, am NATO-Radar fürs westliche Mittelmeer und an Mallorcas heiligstem Kloster. Er führt durch steiniges Hügelland, verwunschene Eichenwälder, Postkartendörfer, Ölbaumhaine und über Berge, die nach Alpen riechen. Der GR 221 (“Gran Recorrido“ – große Route) ist auch als „Ruta de Pedra en Sec“ bekannt, die Trockensteinroute. 140 Kilometer auf alten Köhler-, Post- und Pilgerwegen von einem Ende des Tramuntana-Gebirges zum anderen. Ein mediterraner Erlebnisurlaub in acht Etappen.

  1. Tag: Port d’Andratx – Sant Elm

Das Wunder ereignet sich nach dreißig Minuten. Nach einem hässlichen Schotterweg durch einen vom Immobilienboom zerlöcherten Kiefernwald überschreite ich eine unsichtbare Schwelle und atme schlagartig Natur pur. Alleine die Jetskis, die vor der Küste vorbeijammern, erinnern daran, dass der GR 221 im Millionärswinkel Mallorcas beginnt. Die erste Etappe ist trügerisch einfach, mehr Spaziergang als Wanderung. Zielort: das schmucke Feriennest Sant Elm.

Problem: Quartier

Obwohl der GR 221 emsig beworben wird, fehlen noch Unterkunftsmöglichkeiten. In der Klosterruine von Sa Trapa wird die Herberge für Etappe eins errichtet, Eröffnungsdatum ungewiss.  Sant Elm ist ein Sommerurlaubsort, der von November bis April großteils dicht macht. Auch die zweite Etappe erfordert Planung, da die wenigen Hotels in Estellenc im Winter zeitweise schließen.

  1. Tag: St. Elm – Estellencs

Der Aufstieg zum Kloster Sa Trapa erst durch einen Wald, später über einen Felspfad direkt an einem Abgrund, unter dem eine Bucht funkelt, lässt erstmals die Großartigkeit der Nordküste ahnen. Gegenüber ragt wie ein Drache die deshalb so genannte Insel Dragonera aus dem Meer, 1977 Schauplatz der ersten Revolte gegen den Bauboom, heute Naturschutzgebiet. Panorama-Pause in Sa Trapa, erbaut von französischen Mönchen. Über struppige Höhen geht es weiter zu einem Punkt, ab dem die Nordküste ihre Zähne zeigt. Nach einer Strecke auf Asfalt wird es wildromantisch, aber auch unwirtlich, die Route ist kaum noch markiert. Zehn Prozent Wahrscheinlichkeit von Regen sind angesagt, sie treten zu hundert Prozent ein. Es schüttet, es gewittert. Steinmännchen weisen den Weg durchs Regengrau, bis plötzlich überall nur noch Felshänge oder Buschland dräuen, sich jede Ahnung von Weg im Gelände verliert. Nach einem haarigen Aufstieg reißen die Wolken auf, ich stehe auf einem Berg, sehe bis Palma, bis Dragonera, weit unter mir wähne ich den rechten Pfad, verlaufe mich dann aber vollends. Über rutschiges Felsgelände kämpfe ich mich nach unten, um noch bei Tageslicht zur Straße zu gelangen. Der Rest des Weges ist unromantisch, aber mir bleibt die Übernachtung im Steilhang erspart.

Wanderwetter

Februar bis Mai und September bis November werden als beste Wandermonate empfohlen. Anhaltende Schlechtwetterphasen sind möglich, wenngleich in normalen Jahren selten. Im Schnitt ist der Herbst regenanfälliger. Der spanische Wetterdienst bietet unter  www.aemet.es relativ zuverlässige 7 Tage-Prognosen, die auch Sprachunkundigen weitgehend verständlich sind. Wichtig: Mallorca hat viele Mikroklimas, man sollte immer für Regen wie Sonne gewappnet sein.

  1. Tag: Estellencs – Esporles

Im Vergleich zum Vortag ein Spaziergang. Kalte Dusche gleich am Start: Ein Schild informiert, dass die Eigentümer der Finca Es Rafal das Recht erstritten haben, den Durchgang zu verbieten. Eine Teilstrecke führt daher über die Straße. Dafür geht es später von Banyalbufar über den romantischen alten Postweg nach Esporles.

Durchgang verboten

Historisch bedingt steht ein Großteil der Insel in Privatbesitz. Während man Mallorca früher problemlos durchstreifen konnte – die isoliert lebenden Gutsverwalter waren für Abwechslung dankbar – igeln sich heute viele Besitzer ein. Der Inselrat bemüht sich mit Verhandlungen, aber auch vor Gericht um Durchgangsrechte. Bei den Recherchen zu diesem Heft war der GR 221 an zwei Stellen gesperrt: zwischen Estellencs und Banyalbufar, sowie zwischen Esporles und Valldemossa. Die Insulaner kennen Schleichwege und Schlupflöcher in den Zäunen. Ortsfremde sollten das Schild „Paso prohibido“ (Durchgang verboten) respektieren. Oder man bezahlt: Der Besitzer des zweithöchsten Berges der Insel, des Puig de Massanella, kassiert eine „Wander-Maut“.

  1. Tag: Esporles – Deià

Zwei Schilder verwirren mich. Eines zeigt den GR 221 an, das andere verbietet mir in der angegebenen Richtung den Durchgang. Ich überwinde Unbehagen und Barriere. Im „verbotenen Wald“ neuerlich ein offizielles Schild des Weitwanderwegs. Mediterrane Ambivalenz in ihrer ganzen Pracht.

Die Etappe ist die wohl anstrengendste des GR 221. Manche Wanderer überspringen die Strecke Esporles-Valldemossa. Der folgende Abschnitt ist in jedem Sinn ein Höhepunkt: Aufstieg auf einen dramatisch schönen Bergrücken, hinter dem das Dorf Deià an der Steilküste klebt.

Der Abstieg ist eine Meditation: Waldpfade, Ölbaumterrassen, Landgüter, eine Burgruine. Trotzdem bin ich niedergeschlagen, zweimal habe ich mich an diesem Tag verfranst. In der Wanderherberge Can Boi in Deià (23,50 Euro für Abendessen, Übernachtung, Frühstück) wird mein Selbstwertgefühl wieder aufgerichtet: zwei Touristenpaare, routinierte Wanderer, berichten über Irrgänge auf derselben Strecke.

Der winzige Friedhof von Deià gilt als schönster der Insel, viele Künstler liegen hier begraben. Der geplante Besuch fällt jedoch wegen Erschöpfung flach.

Verirren ist menschlich

Lediglich für die zweite Tagesetappe des GR 221 sind ortskundige Begleitung oder Orientierungsgadgets (GPS) dringend zu empfehlen. Auch Esporles-Deià ist schwierig, bei ausreichender Zeitreserve jedoch unproblematisch. Achtung: Die Bergrettung pflückt routinemäßig Ausflügler aus der Wildnis, die Mallorcas Bergwelt unterschätzen. Die Beschilderung der Wege ist sehr unterschiedlich, oft exzellent, wo verzichtbar, und manchmal abwesend, wo dringend nötig. Gute Wanderkarten: „Mallorca Tramuntana Sud/Sur“, „Mallorca Tramuntana Central“ und „Mallorca Tramuntana Nord/Norte“ des Verlags „Editorial Alpina“, Maßstab 1:25000. www.editorialalpina.com. Auch ist ein lokal herausgegebener exzellenter Wanderführer mit dem Titel „GR 221“ u.a. auf Deutsch erhältlich. www.triangle.cat.

  1. Tag: Deià – Sóller

Der GR 221 beschert nach jeder anstrengenden Etappe eine zum Entspannen. Deià – Sóller führt über lauschige Waldpfade, man hat Zeit zum Schauen und Ausruhen.

Gute Nacht in Sóller

Die Herberge „Refugi de Muleta“ liegt direkt an der Küste. Trotzdem empfehle ich für die Übernachtung Sóller: für die Königsetappe spart man sich eineinhalb Stunden Anmarschweg und das hübsche Städtchen bietet Gelegenheit zum Einkaufen.

  1. Tag: Sóller – Els Tossals Verds

Mallorcas Berge rufen nicht, sie brummen. Die Tramuntana ist ein gigantischer Zen-Garten. In der Schlucht von Biniaraix bündelt sich das Großartigste an Berglandschaft und Menschenwerk zur Kulisse der Königsetappe. Zuerst über den Steinweg, dann durch einen Hochwald, am Ende einen Stausee entlang, vorbei am höchsten Berg der Insel, dem Puig Major mit seiner markanten Radarkuppel. Es ist Sonntag und die Einsamkeit macht kurz Picknickrummel Platz. Die letzte Strecke führt durch einen üppig mit Moos dekorierten Wald, hier könnte man den vierten Teil des „Herrn der Ringe“ drehen. In einer Senke zwischen Bergen eine Fata Morgana: Els Tossals Verds, die einsamste Wanderherberge der Insel.

Ein Segen namens „Refugi“

Traditionelle Architektur, saubere Unterkünfte, freundliches Personal, günstige Preise und angenehmes Ambiente. Die Wanderherbergen („Refugis“) des Inselrates stehen jedermann für maximal fünf Übernachtungen offen. Reservierung über www.conselldemallorca.net mindestens fünf Tage im Voraus (für Wochenenden besser 2-3 Monate im Voraus), man wird aber auch spontan aufgenommen, freie Betten vorausgesetzt. Derzeit und ganzjährig im Betrieb: Can Boi (Deià), Refugi de Muleta (Port de Sóller), Els Tossals Verds (Lloseta), Can Amer (Lluc), Pont Romà (Pollença).

  1. Tag: Els Tossals Verds – Lluc

Fern aller Zivilisation geht es durch ein wildes Tal, über eine Passhöhe, dann vorbei an Ruinen von Schneehäusern: riesige Trockensteinbauten („En Galileu“ misst 14 x 7 x 6 m) in rund 1.000 Metern Höhe. In dieser Region wurde ab dem 16. Jahrhundert Schnee zu Eis komprimiert, um die Inselhaupstadt mit Kühlstoff zu versorgen.

Abstieg zum Tal des Klosters von Lluc, ein Weg aus glattem Naturstein windet sich einen Steilhang hinunter, bei Feuchtigkeit oder Schnee einer der gefährlichsten Abschnitte des GR 221.

Schuhwerk

Viele Kilometer verlaufen über Natursteinbelag, daher sind halbhohe Trekkingschuhe mit flexibler Sohle ideal. Bergschuhe mit steifer Sohle unbedingt meiden.

  1. Tag: Lluc – Pollença

Zauberwälder umgeben das Kloster Lluc, die wichtigste Pilgerstätte der Insel. Nach Pollença gelangt man an einem halben Tag, die Route führt zwischen Bergen hindurch in ein anderes Mallorca: Wiesen, Laubbäume, Wassermühlen, nördliche Stimmung, eine endlose Zielgerade über Nebenstraßen, am Ende wartet das zur Herberge umgebaute alte Schlachthaus, der Name „Pont Romà“ weist auf die nahe Römerbrücke hin, die seit zweitausend Jahren ihre Funktion erfüllt.

140 harte Kilometer sind zurückgelegt. Doch sowie die Füße sich erholt haben, jucken sie auch schon wieder. Gut, dass der Inselrat bereits am GR 222 arbeitet: Lluc-Artà.

Weitwandern extrem

Im Sommer organisieren Extremsportler die „Travessa Express“, die Durchwanderung der Tramuntana in 24 Stunden, eine Privatveranstaltung ohne Rangwertung. Die Teilnehmer sind Puristen, die auf jede Betreuung verzichten. Web (nur katalanisch): http://www.atletasdebaleares.com/travessa.htm

Die Renaissance der Trockensteintechnik

„Pedra en Sec“ wird auf den Balearen ein Verfahren zum Bau von Steinkonstruktionen ohne Hilfe von Zement oder Mörtel genannt. Hauptsächlich kommt die Trockensteintechnik bei Terrassen- und Begrenzungsmauern, aber auch bei Wegbauten zum Einsatz. Historisch gesehen war die „Pedra en Sec“-Methode eine logische Antwort auf den Überfluss an Steinen und den Mangel an Wasser: Bauern säuberten Land für den Ackerbau und nutzten die weggeräumten Steine für Begrenzungsmauern und primitive Gebäude. Während der arabischen Herrschaft (auf Mallorca 902 – 1229) wurde das Verfahren entscheidend weiterentwickelt, damals entstanden ein Großteil der beeindruckenden Terrassen sowie ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts erlebte das vom Aussterben bedrohte Handwerk des „Marger“ eine Renaissance, zu der stilbewusste Ausländer mit der Restaurierung traditioneller Landhäuser beitrugen. Heute bemüht sich der Inselrat mit einer eigenen „Escola de Margers“ (Schule für Trockensteinbauer) um die Förderung dieser aufwendigen, jedoch für das Landschaftsbild so wichtigen Methode.

Rund hundert Personen sind permanent mit dem Ausbau, der Restaurierung  und der Instandhaltung des wachsenden Wanderwegnetzes in der Tramuntana beschäftigt. Die spektakulärsten Trockenstein-Strecken des GR 221 sind der „Camí de s’Arxiduc“ zwischen Valldemossa und Deià (4. Etappe), der Weg durch die Schlucht von Biniaraix bei Sóller (6. Etappe) und der „Camí de ses Voltes d’en Galileu“, der Abstieg vom Coll des Prat nach Lluc (7. Etappe).

Merian Mallorca 2009