Als der Urmensch von den Bäumen stieg, bestand sein erster Impuls nicht darin, Stühle zu bauen, sich ins Freie zu setzen und einander Neuheiten und interessante Gedankengänge zuzugrunzen. Nein, die Priorität war, Schutz vor den Elementen zu finden. Zuerst in Höhlen, danach in Zelten, Hütten, Häusern.

Seit Beendigung dieses Prozesses scheint die Evolution eine Schleife gezogen zu habe. Wenn ich an einem grausigen November- oder Dezemberabend – und ja, die Abende im Winter können grausig sein auf Mallorca! – von der Arbeit nach Hause fahre und in meinem Dorf ankomme, bietet sich, wenn nicht gerade ein Tornado mit Windstärke zwölf durch die Gassen hagelt, das folgende Bild: Vor der Dorfbar statt im warmen, gemütlichen Inneren sitzen mehrere Gestalten und machen auf behaglich. Die Rede ist nicht von verbannten Rauchern sondern von normalen Menschen.

Das Phänomen ist keineswegs auf mein Dorf beschränkt, oder auf Dörfler. Ich sehe das überall. Auch wenn ich einmal mit einem Grüppchen unterwegs bin und wir kehren ein und die Frage lautet: draußen oder drinnen, lautet die Antwort auch und gerade bei Nordländern: Na, draußen natürlich. Solange der Wind zu schwach ist, um ein gefülltes Sektglas umzupusten, sitzt man dann also draußen und alle schauen sich mit Hach-ist-das-schön-Gesichtern an, während sich bei mir ein Scott-am-Südpol-Feeling breitmacht.

Bei meinen Recherchen über diesen unwiderstehlichen Drang zum Draußensitzen bin ich auf eine erstaunliche Meldung gestoßen: Der Bürgermeister des Dorfes Algar in der südspanischen Provinz Cádiz hat eine Initiative angeleiert mit dem Ziel, das Draußensitzen und Plaudern zum immateriellen Weltkulturerbe der Menschheit zu deklarieren. Mit dem dort „Corro de sillas al fresco“ genannten Brauch ist freilich der Nachbarplausch an Sommerabenden auf Stühlen vor dem eigenen Haus gemeint. In dem Artikel wurde sogar eine Anthropologin bemüht, die aber auch nicht mehr zu sagen wusste als: Das bürgerte sich ein, als es noch keinen Fernseher und keine Klimaanlage gab.

Man muss kein Soziologe sein, um die Folgen des Unesco-Adelsschlags für das Draußensitzen zu ahnen. Dialog zwischen Ehepartnern: „Liebling, in der Küche ist noch so viel Arbeit zu tun, könntest du mir helfen?“ – „Keine Zeit, mein Schatz, ich muss das immaterielle Kulturerbe der Menschheit pflegen“. Um auf Augenhöhe argumentieren zu können, muss der Alleingelassene nun darauf hoffen, dass irgendwann auch die Küchenarbeit-mit-Radiohören denselben Status erhält.

Dabei fällt mir eine Drinnensitzen-Anekdote ein, aus meinen Anfängen im Journalismus. Damals, ohne Internet, konnte sich der Schlussredakteur noch ungestraft Scherze erlauben. Wenn beispielsweise über den Fernschreiber der Nachrichtenagentur einen ganzen Tag lang keine ausreichend kuriose Meldung für die letzte Seite hereinkam, hat er einfach eine erfunden. Im konkreten Fall dachte er sich die Geschichte eines offenbar schlecht beheizten Kinos in Sibirien aus, dessen Besucher im Lauf des Films regelmäßig an ihren Sitzen festfroren und am Ende der Vorstellung vom Personal losgeeist werden mussten.

Wenn ich drüber nachdenke: Vielleicht war die Geschichte gar nicht erfunden …

Kolumne in der Inselzeitung Dezember 2021