Deine fremde Tochter
Digital Publishers, 2019
Neuauflage 2023
498 Seiten
ASIN B07T423VXY

Inhalt
Unter rätselhaften Umständen verschwindet eine junge Norwegerin auf ihrer Weltreise. Nach erfolglosen Ermittlungen wird sie für tot erklärt. Dann wird Rita Kleefman auf den Fall angesetzt, die berufsmüde Detektivin einer Versicherung, die eine astronomische Summe an die schwerreichen Eltern zahlen muss. Die Ermittlungen führen nach Marokko, wo das Mädchen letztmals lebend gesehen wurde. Bald stößt Rita auf merkwürdige Ungereimtheiten in den offiziellen Berichten und wird mit den Abgründen eines Familiendramas konfrontiert. Als die Detektivin der Wahrheit näher kommt, gerät Rita selbst in Gefahr und wird am Ende vor die Wahl gestellt, das Richtige zu tun oder den Fall erfolgreich abzuschließen.

Hintergrund
Die Region, in der dieser Roman spielt, habe ich aus zwei Perspektiven erlebt: Als Rucksacktourist und als UN-Offizier. Insgesamt habe ich über ein Jahr in der Region verbracht. Nachdem ich Französisch, Spanisch und auch ein wenig Arabisch spreche, hatte ich einen sehr intensiven Kontakt mit den Menschen in Marokko und in der Westsahara. Die konkrete Idee zu diesem Roman entstand aufgrund langer Konversationen mit marokkanischen Jugendlichen in Essaouira, die ihre einzige Chance auf eine Zukunft darin sahen, eine ausländische Touristin zu erobern.

Leseprobe
Rembrandt wirkte nicht überrascht, nur ein wenig überarbeitet. „Hanno hat mich zum Operationsdirektor ernannt“, berichtete er ohne jeden Stolz in der Stimme, machte aber eine Pause, als ob er trotzdem Applaus erwartete.

„Jeder hat seine Probleme“, erwiderte Rita gefühllos und kam, um Rembrandts Loyalität nicht auf eine allzu frühe Probe zu stellen, ohne Umschweife zum Thema: „Meines heißt Norwegen.“

„Norwegen ein Problem?“, staunte Rembrandt. „Das klingt böse. Wein dich aus, Mädchen. Dafür ist ein Operationsdirektor da.“

Rita streckte sich auf ihrem Bett aus und betrachtete den Mittelmeerhimmel durch ein Fenster, auf dem ein Angriff mit Putzlappen und chemischer Brühe ein weißliches Kurvenmuster hinterlassen hatte. Der

altmodische Telefonhörer in ihrer Hand war schwer wie eine Hantel.

„Niemand weint“, erwiderte sie. „Ich will nur vermeiden, dass die Buchhaltung weint, wenn

sie meine Reisespesen sieht.“

„Du kaufst also doch Teppiche. Rita, ich habe dich gewarnt!“

„Ich dachte, ich könnte von Casablanca direkt nach Norwegen fliegen.“

„Warum Casablanca?“

„Dort wurde Eva zum letzten Mal gesehen.“

„Und warum Norwegen?“

„Abklärungen.“

Rita hörte Rembrandts Gekritzel auf einem seiner Post-it-Blöcke. „Notiert, Mädchen“, sagte er. „Ich hole das Okay ein und sage dir beim nächsten Mal Bescheid. Gib mir nur eine wirklich gute Begründung für

Norwegen.“

„Eine wirklich gute Begründung?“ Rita zuckte die Achseln. „Begründung wie immer: Ich will mit ein paar Leuten reden.“

„Sehr gut“, höhnte der frischbestellte Operationsdirektor. „Das wird überzeugen. Lass mich notieren: Rita-will-mit-Leuten-reden.“

„Was ist los mit euch? Habe ich jemals in Disneyworld recherchiert?“

„Vorsicht“, warnte Rembrandt. „Heikles Thema.“

Trotz ihrer Verärgerung konnte sich die Detektivin ein Grinsen nicht verbeißen. Rembrandt war erst seit zwei Monaten dabei, doch offensichtlich bereits über die prachtvollsten Geschichten der Abteilung aufgeklärt. Hanno de Meys Trip nach Florida und seine Verrechnung eines Disney-World-Besuchs als Ermittlungsspesen gehörten zu den Kronjuwelen der Safee- Episoden-Schatztruhe.

„Vergnüge dich in Marokko, gib mir einen guten Grund für Norwegen und ich verspreche dir eine positive Antwort“, beschwichtigte Rembrandt. „Der Chef möchte mehr Kontrolle und ich bin verantwortlich.“

„Vielleicht hilft die Millionärin“, sagte Rita. „Sie hat mir persönlich grünes Licht gegeben, so viel Spesen zu machen, wie ich will.“

„Die Versicherungsnehmerin hat dir …?“ Rembrandt lachte verblüfft. „Seit wann beteiligen sich unsere

Kunden an den Ermittlungsspesen?“

„Seit Neuestem. Frag Hanno, er steht mit ihr in Kontakt. Möglicherweise besteht ein Abkommen.“

Rembrandt schnalzte mit der Zunge. „Interessant. Ich werde ihn fragen. Wann bekomme ich mein Resümee?“

„Wenn der Fall abgeschlossen ist. Mit einem frischen Lichtbild von Eva, hoffe ich.“

„Das hoffen wir alle. Viel Glück und nimm dich vor den Teppichhändlern in Acht.“

Rita legte auf und blätterte in ihrem Notizblock. Sie verspürte Lust auf eine offizielle Version des Falls. Auf eine marokkanische Version. Sie verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, einem gewissen Inspektor Abdellah Yezaa nachzutelefonieren, der offenbar in einem der wichtigeren Büros des Sûreté-Hauptquartiers in der Hauptstadt Rabat Hof hielt, denn sie musste einer weiblichen und drei männlichen Stimmen unterschiedlicher Freundlichkeit ihr Anliegen schildern, bis ein rauchiges Männertimbre nach einem kurzen Pingpong aus Fragen und Gegenfragen gestand – als sei dies ein Staatsgeheimnis –, dass der genannte Abdellah Yezaa höchstselbst am Apparat war.

„Wir haben Sie in Casablanca erwartet“, sagte Abdellah mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Was tun Sie in Tanger?“

„Ermitteln“, erklärte Rita und biss sich auf die Lippen, während sie einer Antwort harrte.

„Sie sollten das mit uns koordinieren, Madame Kleefman“, erklärte der offenbar hochgestellte Gesetzeshüter nicht sehr überraschend. „Aber das ist ein Angebot, keine Warnung. Alleinreisende Frauen haben es schwer in diesem Land. Wir würden es vorziehen, wenn Sie Ihre Ermittlungen unter unserem Schutz vornehmen würden. Wobei ich gleich hinzufüge, dass diese sogenannten Ermittlungen nur inoffizieller Natur sein können. Für uns sind Sie eine Touristin, die Fragen stellt. Aber das ist kein Problem. Wollen wir uns treffen?“

„Mit Vergnügen. Wann, wo?“

„Ihre Wahl, Madame. Wo sind Sie morgen?“

„In Meknès. Ich fahre mit dem Zug. Später werde ich nach Rabat kommen, wir könnten uns auch dort sehen.“

Eine ewige Weile verstrich. Abdellah machte entweder Notizen oder extrem kunstvolle Strichmännchen, wobei er leise ins Telefon grunzte, vermutlich ohne Absicht. „Später? Wann später?“

„Ein paar Tage.“

„Ich würde es vorziehen, Sie in Meknès zu treffen. Wahrscheinlich kommen Sie am Abend dort an. Gehen wir doch gemeinsam essen. In welchem Hotel steigen Sie ab?“

„Maison d’Orphée.“

„Kommt mir bekannt vor.“ Abdellah grunzte wieder ein Weilchen, dann rief er: „Waha!“, und sie hörte eine Hand auf einen Tisch knallen. „Natürlich, jetzt verstehe ich. Sie rekonstruieren die Reise von Mademoiselle Eve!“ Der Inspektor kicherte rauchig ins Telefon und sagte: „Wie Sie meinen, Madame, wie Sie meinen. Großartig ist die Bude nicht, und Zettelchen hat Mademoiselle Eve auch keine hinterlassen. Wir haben alles abgesucht. Aber Sie sind vermutlich eine Anhängerin der Psychomethode.“

„Pardon?“

„Sie wollen Eva kennenlernen und am Ende Ihrer Reise stehen Sie in Casablanca auf dem Marktplatz und fahren Ihre Antennen aus, um das Kind zu orten. Oder haben Sie ein Pendel dabei? Egal. Verzweifelte Eltern versuchen eben alles.“