„Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ von Florian Huber

Wenn jemand mir sagte, er wolle nur ein einziges Buch über den Zweiten Weltkrieg lesen, dann würde ich wahrscheinlich dieses empfehlen. Der Grund: Es hilft verstehen.

Das ist nicht unbedingt angenehm. „Kind, versprich mir …“ ist ein von vorne bis hinten furchtbares Buch. Aber zugleich das erhellendste, das ich zu einer eminent wichtigen Frage bisher gefunden habe: Was ging während der Hitler-Jahre in den Köpfen der Deutschen vor?

Florian Huber schürft wesentlich tiefer, als der Titel ahnen lässt. Der Massen-Selbstmord der Bevölkerung von Demmin, einem Städtchen in Preußen, am Ende des Zweiten Weltkriegs dient ihm als narrativer Aufhänger für zwei Chroniken: Einmal die bislang unerzählte Geschichte der Selbstmorde in der deutschen Bevölkerung 1945, ein Phänomen, das sich bis zu den höchsten Rängen der Streitkräfte erstreckte und – die bekannte Spitze des Eisberges – auch auf die politische Führung des Dritten Reiches, allen voran Hitler, Eva Braun und die Familie Goebbels. Und zum anderen die Beschreibung der deutschen Seelenlandschaft und ihrer Veränderungen im Lauf der braunen Jahre.

Ob Huber im Lauf seiner Recherchen durch Zufall auf Material gestoßen ist, das ihm die Behandlung des letztgenannten Themas erlaubte, weiß ich nicht. Aber ich habe noch nirgendwo eine so klare, nachvollziehbare Darstellung von der Gefühlswelt der Menschen im Dritten Reich gefunden. Eine exzellente Zusammenfassung bieten die Namen der Kapitel, die Huber in Teil III seines Buches dem Thema widmet, deren Übertitel lautet: „Im Taumel der Gefühle“. Der Index liest sich wie eine Chronik: „Die Wunde Deutschland“, „Hungern und Schwärmen“, „Fackeln im Winter, Veilchen im März“, „Teil von etwas Größerem“, „Ein Spalt in der Seele“, „Die glücklichen Jahre“, „Verliebt in den Führer“, „Sieger sein“, „Eine Ahnung von Abgrund“, „Der Schatten der anderen“, „Gefrorene Seele“.

Der Autor stützt sich im Wesentlichen auf Tagebuch-Aufzeichnungen und Augenzeugenberichte. Aber auch in Archiven fand er bemerkenswerte Daten. „Kind, versprich mir …“ ist nicht nur ein Buch über die Selbstmorde, sondern auch über das Davor und Danach. Huber setzt sich quasi als Fleißaufgabe und in derselben unbarmherzig analytischen Weise mit dem Schweigen, Verdrängen und Vergessen nach 1945 auseinander, einer der Gründe übrigens, warum das große Sterben in den letzten Tagen des Krieges und den ersten des Friedens in Deutschland bislang nicht zum Thema werden konnte. Es ist ein dramatisches Buch voller schrecklicher Schilderungen, zugleich aber auch eines der vollständigsten, um das damalige Geschehen jenseits von Frontberichten und Kriegsalltag zu verstehen.

MEIN LIEBLINGSZITAT

Zu den interessantesten Quellen gehört der Bericht des Schweizers René Juvet, der während des Kriegs in einer Maschinenfabrik in Augsburg arbeitete und 1943 in seine Heimat zurückkehrte, „um der Katastrophe zu entgehen“. Huber schildert die gespenstische Begegnung mit einem SS-Mann während einer nächtlichen Zugfahrt. „Juvet bemerkte, dass der Mann betrunken war und dass er reden wollte. Er sei auf Urlaub und brauche den Alkohol, um seinen Beruf auszuhalten und nachts schlafen zu können. Seinen Dienst verrichtete er im KZ Mauthausen bei Linz … Er war katholisch, er sprach von Gott, der das alles nicht ungestraft geschehen lassen könne; von den Handschuhen, de die Herren da oben anhatten, um sich nicht selber die Finger dreckig zu machen; von dem Mörder, den sie aus ihm gemacht hatten. Im Suff lag Selbstmitleid, er fühlte sich verraten und verheizt, ein Opfer des Führers. Der einzige Ausweg, der ihm einfiel, war der Selbstmord. Dem Untergang vorgreifen, wo der Sieg nicht mehr erreichbar war.“

NEBENBEI ERWÄHNT

Obwohl es in Florian Hubers Buch laut Untertitel vorrangig um den „Untergang der kleinen Leute“ geht, erwähnt er die großen mit knappen Daten: „Von 554 Generälen des Heeres töteten 53 sich selbst, außerdem 14 von 98 Luftwaffengenerälen und 11 von 53 Admirälen.“