Sie hat ein Buch geschrieben. Ihr Leben wurde verfilmt. Sie ist eine angesehene, respektierte Frau. Der einzige Körperteil, den sie bewegen kann, ist ihr linker Fuß. Gaby Brimmer, Mexikanerin, Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Wien.

Mexiko-Stadt: Zwischen dem lärmerfüllten Betonschlauch der Stadtautobahn „Periferico“ und dem fünfspurigen Asphaltband „Revolución“ verliert sich das chaotische Blechgetümmel in einem nahezu verträumten Wohnviertel, „Tlacopac“. Es ist ein verregneter Freitagnachmittag in der größten Stadt der Welt. Meine Gefährtin Marlene und ich haben ein Rendezvous mit dieser „Behinderten“.

Buch und Film haben mir über Gaby erzählt, dabei ist sie für mich überlebensgroß geworden, mir ist flau im Magen. Wie plaudert man mit einem hilflosen Bündel Körper, in dem man einen hellwachen Geist eingesperrt weiß?

Gaby bezeichnet sich als religiös. Nur hat sie ihr Schicksal nie einer höheren Macht überlassen. Ihre Verzweiflung hat sie in Gedichten herausgeschrien. Ihr Leben ist Sonne und Schatten wie bei allen Menschen, nur daß die Schatten schwärzer sind.

Eine Frau – fraulich, leidenschaftlich. Dafür bezahlt sie auch. Gaby kennt den Schmerz des Liebeskummers wie sie die Lust des Geliebtseins kennt. Sie kennt die Enttäuschung. Sie kennt den Orgasmus. Sie flirtet, wenn ihr ein Mann gefällt. Akzeptiert keine Beschränkungen, schon gar nicht die der „normal majority“. Gaby hat nur den großen Zeh des linken Fußes, um sich zu wehren, aber der genügt ihr, um sich ihre eigenen Gesetze zu schreiben.

„Calle Flores“ – Blumenstraße. Zwischen einer hohen Mauer und einer Zeile schmucker Häuser braust der Anrainerverkehr über ein schmales, holpriges Sträßchen. In dieser romantischen, besseren Wohngegend hat Gaby seit zehn Jahren ihren Winkel.

Florencia öffnet uns. Eine Nebenperson, wie sie selbst meint. Eine Hauptfigur, befanden die Dramaturgen der aufwendigen US-Filmproduktion „Gaby – eine wahre Geschichte“ und machen die „Nana“ („Kindermädchen“) zur heimlichen Hauptrolle. Florencia ist ein Phänomen wie Gaby, nur auf anderer Ebene. Die einfache Frau vom Lande traf 1949, zwei Jahre nach Gabys Geburt, in den Dienst der wohlhabenden Brimmers. Sie, die Putzfrau, entdeckte, daß Gaby ihren linken Fuß kontrolliert bewegen kann. Nicht die Ärzte, nicht die Eltern.

Damals begann eine ebenso außergewöhnliche wie starke Beziehung, fast eine Art Symbiose. Florencia ist rund um die Uhr mit Gaby zusammen. Sie liest das am Fußende des Rollstuhls angebrachte ABC, auf dem Gaby mit ihrem Fuß Wörter anzeigt. Sie zerrte den Rollstuhl treppauf, treppab. In Schulen. In der Universität. An Gabys Seite absolvierte sie die gesamte Ausbildung ihres Schützlings mit. Als ihre Stimme, ihre Hand, ihr alles das, was Gaby nicht hat.

Von der Eingangstür aus sehen wir das helle Wohnzimmer. Gegen das Grün des Gartens zeichnen sich ein Rollstuhl und eine schmale kleine Gestalt mit geneigtem Kopf ab.

Gaby ist das, was ihre Umwelt einen „tragischen Fall“ nennt: von Geburt an gelähmt, „an den Rollstuhl gefesselt“, körperlich schwerstbehindert. Die Gesichtszüge entstellt, die dünnen Arme hängen in grotesken Winkeln herunter. Wenn sie zu sprechen versucht, bleibt es bei gepreßten, stöhnenden Lauten. Ihre Muskulatur folgt den Befehlen des Gehirns nicht. Einzig der linke Fuß gehorcht – und dem befiehlt sie unermüdlich. Sie spricht, schreibt, streitet, kämpft, lacht, weint, plaudert, fragt, antwortet mit ihrem linken Fuß.

Florencia und Gaby verständigen sich schnell. Nach 38 Jahren Zusammenleben sind sie exzellent aufeinander eingestellt. Natürlich gibt es auch Krach. Etwa wenn Florencia jenes temperamentvolle Wesen im Rollstuhl gegen dessen Willen vor menschlichen Enttäuschungen zu schützen sucht. Eifersucht. Verbitterung. Ärger, wenn Gaby ihre Nana in Verlegenheit bringt, indem sie unfeine Wörter diktiert.

Nachdem Gaby und Marlene ein wenig Familientratsch ausgetauscht hatten, nachdem ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, daß dieser vollkommen abwesend wirkende Kopf jedes Wort aufnahm, das im Raume gesprochen wurde, kamen wir zufällig auf Prostitution zu sprechen. „Toll, daß wir davon sprechen“, morst Gaby fröhlich. „Ich schreibe nämlich gerade an einem Roman über Huren.“

Ich, baff: „Wieso über Huren?“

„Weil ich glaube, daß die Prostituierte weder Stimme noch Recht hat. Außerdem …“, und als sie das sagt, streckt sich ihr Körper und sie stöhnt vor Verzückung, „finde ich es herrlich, dort etwas zu sagen, wo mich niemand um meine Meinung bittet.“

Wenn Gaby keine Depressionen hat, während denen sie manchmal tagelang Gespräche verweigert, findet sie vieles herrlich. Das ist ihr Motor.

Sie hat erreicht, was sie wollte: respektiert zu werden, als intelligent, als Person. Gekostet hat sie das ein jahrelanges Ringen. Es beginnt, als Gaby von einer Behinderten-Anstalt in eine öffentliche Schule überwechseln will. Die Mutter nimmt einen langen, beschwerlichen Behörden-Marathon auf sich. Nach etlichen Bemühungen wird Gaby einer Aufnahmeprüfung unterzogen – pro forma, denn an einen Erfolg glaubt niemand. Hier wie in vielen anderen Fällen wollte man Gaby „schonen“, sie vor einer Enttäuschung „bewahren“, in Wahrheit bremste man sie. Die Behinderte bestand die Prüfung, der Kampf ging jedoch weiter – gegen Ablehnung durch Schüler wie Lehrer, gegen Unverständnis, gegen oberflächliche Neugier. Gaby wurde immer wieder aus Klassenräumen und später aus Uni-Lehrsälen gewiesen. Sie lenke die Klasse ab. Sei ein Spezialfall. Gehöre nicht hierher.

Gaby und ihre Florencia kommen mittlerweile alleine zurecht. Sie leben von Buch- und Filmtantiemen sowie einer kleinen Pension, die Österreich der jüdischen Flüchtlingsfamilie Brimmer zugestanden hat. Jetzt würde Gaby gerne als Journalistin arbeiten, sitzt täglich stundenlang an ihrer Schreibmaschine, macht Gedichte, werkt an ihrem Roman.

Im Haus ist stets Leben. Alma, die zehnjährige Adoptivtochter, ist ein gesundes, keckes Mädchen, eine kleine, dunkle Mexikanerin. Für Gaby ist es ein tägliches Wunder, das Heranwachsen dieses Kindes mitzuerleben. Als sich Alma (zu deutsch: „Seele“) im Laufkäfig aufrichtet, morst Gaby: „Vielleicht ist der Tag, an dem ein Kind zum ersten Mal aufsteht, für eine normale Mutter nichts so Besonderes wie für eine Invalide. Zuzusehen, wie mein Kind auf seinen beiden Beinen steht, aufrecht, dick und stark, macht viele Jahre im Rollstuhl wett.“

Wienerin, März 1988