Vortragsabend mit Heinrich Harrer im Festspielhaus Bregenz – Bericht und Interview
Bregenz. – „Wenn Sie wieder einmal in die nubischen Berge kommen, gebe ich Ihnen folgenden Tipp …“ So kollegial gab sich Harrer im vollbesetzten Saal des Festspielhauses, als spreche er mit lauter Weltreisenden. Als bodenständiger Flach- und Trockenländer konnte man bald die Orientierung verlieren: Im D-Zug-Tempo durcheilte Harrer den Himalaya, durchpflügte er den Amazonas, erklomm er die erwähnten nubischen Berge und wirbelte durch Afrika. Dazwischen gab es viel Blumen und Volkskultur zu sehen. Kein Wunder: Reißerische Abenteuerromane schätzt der Freund des Dalai Lama und Sven Hedins nicht besonders, wie er der NEUEN anvertraute.
Nur zögernd kam der Eilzug Harrer ins Rollen. Die Dias waren falsch eingelegt und zu seinen ersten bewegten Schilderungen der Eiger-Nordwand schwenkten auf der Leinwand nubische Krieger Schilde und Speere. Das Matterhorn war bald bestiegen, Europa eilends verlassen und alsbald galt es für den Kriegsgefangenen Harrer, aus einem britischen Lager in Indien auszubrechen. Von dort kam er schließlich nach Tibet, wo er sieben Jahre verbrachte und das er als reicher Mann wieder verließ.
Zur Einführung erinnert sich der 68jährige Immer-noch-Weltreisende an seinen ersten Vortrag in Bregenz 1952, als ein derartiger Andrang herrschte, daß sogar die Polizei gerufen werden mußte. Diesmal lief die Veranstaltung ruhiger ab.
In knappen Worten erzählt Harrer von seiner Flucht nach Tibet, das Publikum leidet und fröstelt mit: 65 Pässe musste er überschreiten, keiner unter 5000 Meter, Erfrierungen waren selbstverständlich, die Temperaturen kletterten in der Nacht nie höher als vierzig Grad unter Null.
Bald liegt Tibet weit hinter ihm und schon paddelt er den Amazonas entlang. Heiterkeit bis Ekel erfassen die Zuschauer, wenn in Wort und Bild fremde Sitten und Gebräuche dargestellt werden. Die Glöckchen am Hintern der Amazonas-Indianer finden begeisterten Widerhall. Dagegen wird die Gewohnheit eines Negerstammes, Stierblut vermischt mit Milch zu trinken, mit einem angewiderten Raunen quittiert. Leicht ins Wanken gerät der sensiblere Teil des Publikums, als die Narben-Tättowierungen erklärt werden: Schnitte mit nicht ganz keimfreien Skalpellen, darauf Einreiben mit Holzkohle und ähnlichen Nicht-Arzneien, schon sind die schönsten blau schimmernden, fingerdicken Warzen an Brust und Flanke erzielt.
Wohl im Hinblick auf diese Reaktionen meinte Harrer schließlich: „Die Europäer sollten Verständnis für andere Kulturen aufbringen und sie respektieren.“ Für den typisch abendländischen Drang, die eigenen Sitten zu exportieren, fand Harrer keine guten Worte. Man müsse die anderen anerkennen.
Das Alter brachte es bisher nicht zustande, den großen Abenteurer in den Ruhestand zu zwingen: Für das Deutsche Fernsehen wird er im Sommer wieder nach Indien reisen, und momentan arbeitet er an einem umfangreichen Buch über tibetanische Heilpraktiken. Vor drei Wochen kam er gerade aus Bhutan zurück. Dazwischen verdient er sich sein Geld mit Vortragsreisen, Büchern und Fernsehdokumentationen: „Ich habe immer die höchsten Einschaltziffern.“
Was hält Heinrich Harrer, der die Bergsteigerszene noch genau beobachtet, von den sogenannten „Extremen“, wie Messner oder Habeler?
„Ich war selbst ein ‚Extremer’, aber momentan geht die Entwicklung einem Ende zu. Die Extremsten der Extremen legen jetzt die ‚Schlosserei’ beiseite und klettern frei. Es fehlt ja für gute Bergsteiger jeder Kitzel, wenn sie alle 20 cm einen Haken in der Wand haben.“
Neue Vorarlberger Tageszeitung, 18. März 1981