Artikel aus Anlass des 20. Jahrestages der „Seegfrörne“ 1963, als der Bodensee letztmals komplett zufror.
Ein Hauch von Arktis wehte den Bodensee-Anrainern vor genau zwanzig Jahren um die Ohren: In einem selten strengen Winter fror der gesamte See für mehrere Wochen zu. Daß im heurigen Jahr das Seegfrörne-Jubiläum eine müde, lau-kalte Jahreszeit noch nicht einmal ein Eisschöllchen zusammengebracht hat, darf nicht verwundern. Legte sich der See doch seit dem Jahr 875 erst 33mal einen Eispanzer zu. Statistisch gesehen ist es also durchschnittlich alle 33 Jahre soweit.
Das Jahrhundertereignis Seegfrörne hatte natürlich einen gigantischen Rummel zufolge. Bereits am 19. Jänner wagen sich zahlreiche „Eisgänger“ über den erstmals seit 1956 wieder zugefrorenen Untersee. Schon bald wird die romantische Stille über dem Eis vom Lärm eines riesigen Volksfestes abgelöst. Die Zollschranken zwischen der Schweiz und Deutschland sind auf einer Länge von 16 km so gut wie aufgehoben, auf dem Eis tummeln sich täglich zahllose Spaziergänger und mitten auf dem See bieten Würstelbuden Stärkungen an.
Nach und nach beginnt der ganze See zuzufrieren. Mit Seilen und Schwimmwesten gesichert, machen sich wagemutige Erstüberquerer auf den Weg. Die Show wird diesen aber durch einen elf- und einen zwölfjährigen Schüler gestohlen, die sich in Lebensgefahr begeben, als sie den Überlinger See überqueren. Am 6. Februar ist es schließlich soweit: Seit den Morgenstunden ist der Bodensee auf seiner ganzen Breite von 14 km und seiner Länge von 60 km zugefroren. Nur noch zwischen Friedrichshafen und Romanshorn wird der Schiffahrtsverkehr in einer schmalen Rinne aufrechterhalten.
Nun strömen überall die Menschenmassen aufs Eis. Sogar die Behörden folgen ihnen auf den See: Am 1. März tagt der Rorschacher Gemeinderat rund 150 Meter vom Ufer entfernt auf dem Eis und verhandelt über die Seegfrörne. Nach eingehender Inspektion wird die Tragfähigkeit des Eises offiziell anerkannt. Auch die Gemeindeväter von Nonnenhorn halten in würdiger Kleidung auf dem Eis eine Gemeinderatssitzung ab. Schließlich treffen sich mitten auf dem See deutsche und schweizerische Polizisten. Bei dem Polizeirapport auf dem Bodensee stellen die Behördenvertreter fest, daß es für den Obersee keine Verordnungen und Paragraphen gibt, die ein Betreten des Sees verbieten. Man vereinbart, das auch so zu belassen. Die Seegfrörne bleibt somit vor Bürokratie bewahrt.
Dem Rummel auf dem See sind also keine Grenzen gesetzt: Es werden Autorennen veranstaltet, die „Air Lloyd“ nimmt auf dem Eis einen Rundflugbetrieb auf und die Gemeinden rund um den See freunden sich durch zahlreiche – auch offizielle – Besuche über das große Eis hinweg an. Auch erinnert man sich eines alten Brauches: Eine Holzstatue des Evangelisten Johannes wird jeweils bei einer Seegfrörne in feierlicher Prozession über den See gebracht. Erstmals wurde die Statue am 17. Februar 1573 von Münsterlingen nach Hagnau getragen. 1684 kam sie in die Klosterkirche von Münsterlingen zurück und 1830 wurde sie wieder nach Hagnau gebracht. Dazwischen fror der See wohl mehrmals zu, die Eisschicht war jedoch nicht stark genug für eine Überquerung. 1963 nehmen 2500 Menschen an der Prozession teil, mit der die Statue erneut nach Münsterlingen gebracht wird. Dort wird sie bis zur nächsten Seegfrörne in der Klosterkirche aufbewahrt.
Tragische Unfälle überschatten den Trubel
Nicht nur fröhliches Treiben und würdige Bräuche sieht die Eis-Zeit des Bodensees, sondern auch zahlreiche tragische Unfälle. Vielfach versuchen trotz strengsten Verbotes Autofahrer den See zu überqueren, wobei manche einbrechen. Am 22. Februar löst sich bei Friedrichshafen eine mehrere hundert Meter lange Eisscholle, auf der sich zwei Jugendliche befinden. Am nächsten Morgen können die beiden mit dem Hubschrauber nur noch tot geborgen werden. Obwohl zwischen den an beiden Seeufern gegenüberliegenden Gemeinden Routen abgesteckt sind, verirren sich einige Eiswanderer.
Am 10. März geht es zu Ende mit der Seegfrörne. Nur noch vereinzelt wagen sich Menschen auf das Eis des Überlinger und Untersees. Am 7. April hate sich das Eis auch im Obersee so weit aufgelöst, daß die Schiffe wiueder ihren gewohnten Kurs von Friedrichshafen über Lindau nach Bregenz fahren können.
Wann friert er wieder zu?
Heuer nicht, soviel ist sicher. „General Winter“ muß schon ordentlich mit der Kälte klirren, damit der Bodensee zufrieren kann. Das Gewässer mit einer Gesamtoberfläche von immerhin 538 km2 nimmt nämlich im Laufe eines Jahres soviel Wärme auf, wie die unvorstellbare Menge von 17,5 Millionen Tonnen Steinkohle speichert. Um diesen imaginären Kohleberg zu transportieren, wären eineinhalb Millionen Güterwaggons notwendig. Der Zug wäre 15.000 km lang und würde vom Nordpol bis tausend Kilometer über die Südspitze Afrikas reichen. Ein müder Winter wie der heurige bisher, reicht also nicht, um auch nur einen Eisfilm zu bilden.
Kälte allein genügt allerdings nicht. So war der Winter von 1890/91 einer der drei strengsten der letzten hundert Jahre. Trotz eisiger Temperaturen konnte sich keine Eisschicht bilden, weil lebhafte Winde die Oberfläche in Bewegung hielten.
Die vom See abgegebene Wärme läßt in einem Durchschnittswinter das Oberflächenwasser des Obersees bis Mitte Februar auf vier Grad über Null abkühlen. Damit es den Gefrierpunkt erreicht, muß der Winter nicht nur extrem kalt sein, sondern entsprechend früh sein Regiment antreten.
Im denkwürdigen Jahr 1963 lag schon im November die Lufttemperatur zwei Grad unter dem Mittelwert, die Tiefsttemperaturen erreichten minus fünf bis minus acht Grad. Im Dezember sank die Lufttemperatur um weitere vier Grad gegenüber der Norm und der Jänner war schließlich fünf Grad kälter als der 08/15-Winter. An 15 Tagen zeigte das Thermometer in diesem Monat Temperaturen von unter zehn Grad minus an. Auch der Gebruar war fünf Grad kälter als gewöhnlich. Die absolute Tiefsttemperatur betrug minus 22 Grad.
Schwache Luftbewegungen taten das ihre, um aus dem dünnen Eisfilm, den der See an der Monatswende Jänner/Februar bildete, einen später bis zu 80 cm dicken Panzer (auf dem Untersee) zu machen, auf dem sogar Autorennen abgehalten wurden und Flugzeuge starten und landen konnten.
Neue Vorarlberger Tageszeitung, 31. Januar 1983