Reportage über Tel Aviv und Jerusalem in den ersten Wochen der irakischen Raketenbombardements. Beitrag als freier Korrespondent in Tel Aviv für einen gemeinsamen Artkikel mit Profil-Redakteur Erhard Stackl
Die Häuser sind schwer gezeichnet, aber sie stehen noch, wie angeschlagene Boxer. Soldaten tragen Hausrat aus den von der Wucht des Raketeneinschlags aufgesprengten Wohnungen. Glaslose Fenster zeigen trotzig kleine Flaggen mit dem Davidstern. Ein Mann mit Kopfverband besichtigt die Reste seiner Behausung. Nicht weit entfernt, auf dem Parkplatz, stehen rußgeschwärzt sieben zerbombte Autos. Daneben sind vierzig versperrbare Großcontainer mit den Habseligkeiten der ausgebombten Familien abgestellt. Ein Plakat sagt groß: „Wir bleiben in Tel Aviv.“
Für viele „Telavivim“ gilt das aber längst nicht mehr. 100.000 der rund 1,6 Millionen Einwohner haben der früher so lebendigen Küstenstadt den Rücken gekehrt. Allabendlich verlassen Zehntausende weitere Bewohner Saddams Husseins israelisches Hauptangriffsziel und suchen Zuflucht bei Verwandten, Freunden und in Hotels außerhalb. Dann beginnt in Tel Aviv das Warten auf die Sirenen, auf das Herangrollen der irakischen Scuds, auf die nächtliche Raketenschlacht zwischen Patriots und Al-Hussein-Geschossen.
Zum ersten Mal seit dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 liegt Israels größte Stadt direkt unter Feuer. Seit dem 18. Jänner haben mehr als zwei Dutzend vom Irak gestartete Raketen zehn Häuser völlig zerstört und fast 4000 zum Teil schwer beschädigt. Vier Menschen starben in der Folge der Angriffe, an die 200 wurden verletzt.
Nach jedem Angriff rasen Rettungsmannschaften, dirigiert von ständig über der Stadt kreisenden Beobachtungsflugzeugen, zu den Einschlagsorten. Nach jedem Alarm sind landesweit aber auch an die 500 psychische Notfälle zu behandeln. Denn so eine Situation hat der krisenerprobte Kleinstaat Israel noch nicht erlebt. Die Armee, der die Israelis so vertrauen, die Luftstreitkräfte, die sie für die besten der Welt halten, mußten Saddams Bombardement wochenlang tatenlos zuschauen. Die Regierung Yitzhak Shamirs, die bei vielen als radikal und unberechenbar gegolten hatte, überraschte durch ihre Zurückhaltung.
Freunde Israels in aller Welt, Juden und Nichtjuden, zitterten um den Staat, dessen Bevölkerung der irakische Diktator seit sechs Monaten wie Geiseln hält. Mit der Androhung atomarer und chemischer Massenvernichtung will Saddam den Kriegseintritt Israels provozieren, um seinen Raubzug nach Kuweit in einen panarabischen Feldzug zur Befreiung Palästinas zu verwandeln.
Vorige Woche protestierte die israelische Regierung vor der UNO in New York formell gegen die irakischen Raketenüberfälle und rief die internationale Völkergemeinschaft auf, sie zu verurteilen und für ihre sofortige Beendigung zu sorgen.
Tief verletzt haben die Israelis zur Kenntnis genommen, daß in Deutschland und anderen zivilisierten Industriestaaten, die Saddams Irak erst aufgerüstet haben, die tödliche Bedrohung Israels nun gern übersehen wird. Jede Friedensbewegung, die es unterlasse, solche Tatsachen anzuerkennen, „spielt in die Hände des Aggressors“, warnt das „Internationale Friedenszentrum“ in Tel Aviv in einem vorige Woche veröffentlichten Appell, den unter anderen die bekannten Schriftsteller Amos Oz und Amos Elon unterschrieben. Wer wie sie – regierungskritisch – „für eine Lösung des israelisch-palästinischen Konflikts durch die Anerkennung des Rechtes der Palästinenser auf Selbstbestimmung“ eintrete, solle „nicht glauben, daß eine friedliche Lösung als Teil eines Versuches möglich ist, einen Aggressor zufriedenzustellen, der absolut kein Interesse am Frieden hat“.
Die Weltfriedensbewegung wird von ihren israelischen Freunden aufgerufen, „sich in unzweideutiger Weise an die Seite der Kräfte zu stellen, die derzeit am Kampf gegen die Herrschaft von Saddam Hussein beteiligt sind“.
Israels Regierung ist, wie Premier Shamir vorige Woche betonte, längst zur Teilnahme an der Militärkoalition gegen Saddam bereit. Um eine tiefe Verärgerung ihrer arabischen Partner zu vermeiden, lehnten die USA bisher jedoch dankend ab, versprachen aber, mit Patriot-Abwehrraketen und mit Luftangriffen auf die Scud-Abschußrampen die Raketenbedrohung von Israel zu nehmen.
Hinter vorgehaltener Hand gestehen israelische Regierungspolitiker, daß sie vom schwachen Erfolg dieser US-Aktionen enttäuscht sind. Die irakischen Scud-Abschußrampen befinden sich in einem relativ kleinen Gebiet im Westirak. Die Luftstreitkräfte der Koalition konzentrieren sich, wie US-General Norman Schwartzkopf in einem „Newsweek“-Interview zugab, aber nicht nur auf sie, sondern auf militärische Ziele im ganzen Irak. Israel sei allein imstande, diese Raketenbatterien zu „neutralisieren“, erklärte Ex-General und Wohnbauminister Ariel Sharon nach wochenlangem Schweigen vorigen Dienstag. Und Radio Israel meldete, daß eine gemeinsame Militäraktion mit den USA geplant werde.
Verteidigungsminister Moshe Arens versicherte seinen Landsleuten, daß die Raketenbedrohung in weniger als einem Monat beendet sein werde. Die jüngsten Drohungen des Irak mit ABC-Waffen wären eine „typisch orientalische Übertreibung“. Die Alliierten würden Saddam Hussein in weniger als zwei Monaten stürzen.
Israels Politikern ist klar, daß es für sie auch dann, wenn diese optimistische Annahme aufgehen sollte, keine Ruhe gibt. Im Regierungslager werden Friedensverhandlungen mit den arabischen Nachbarn angestrebt. Die von der UNO vorgeschlagene internationale Konferenz lehnt Außenminister David Levy ab, weil man „Israel dort vor ein Tribunal stellen“ wolle.
Der sozialistische Ex-Premier Shimon Peres erklärte dagegen, daß Israel das Palästinenserproblem vor Verhandlungen mit anderen Staaten angehen müsse. Die PLO sei für ihn kein Gesprächspartner, sagte Peres Ende voriger Woche in Wien, er könne sich aber eine Autonomie der Palästinenser in den besetzten Gebieten vorstellen. Eine internationale Konferenz hält Peres für „unnötig“.
Israelis der unterschiedlichsten politischen Richtungen sind sich aber bewußt, daß nach dem Ende des Krieges Verhandlungen zwischen ihnen und den Arabern stattfinden müssen. Ari Rath, der langjährige Chefredakteur der „Jerusalem Post“, ist überzeugt, daß sie noch heuer beginnen werden.
Unter einfachen Israelis ist das Interesse an dieser Frage derzeit freilich gering. Ihnen geht es darum, mit der „Situation“ fertigzuwerden. „Normal“ ist das Wort, das man am häufigsten zu hören bekommt. Jeder Ladenbesitzer hat an einem anderen Tag geöffnet, doch für alle gehen die Geschäfte „normal“. Eine ältere Geschäftsfrau in Tel Aviv hielt ihren Lebensmittelladen nur bei Kriegsbeginn für einen Halbtag geschlossen. „Angst habe ich keine“, sagt sie, und das wiederum bekommt man von den Älteren am häufigsten zu hören.
In einem kleinen Restaurant in Strandnähe krempelt der Besitzer seinen linken Ärmel hoch, die tätowierte Nummer kommt zum Vorschein. Ex-KZ-Insasse. Wovor soll er Angst haben?
Unter den Bürgern der Stadt ist dennoch eine hitzige Diskussion entbrannt, ob es für einen Israeli in Ordnung sei, die Zielregion Nummer eins zu verlassen. Tel Avivs Bürgermeister Shlomo Lahat schimpfte die Davonlaufenden „Deserteure“, doch die Mehrheit hat großes Verständnis für den Massenexodus, speziell, wenn es sich um Familien mit kleinen Kindern handelt. Der harte Kern der Verbliebenen übt sich unterdessen in Stoizismus. „Ich bleibe in Tel Aviv“-Aufkleber einer privaten Initiative finden reißenden Absatz.
Der „Situation“ mangelt es nicht an bitterer Ironie.So stürzten die meisten Scuds in ärmere Wohngebiete (einmal gar in ein Viertel mit vorwiegend irakischen Juden), wo man es sich wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation bis vor kurzem kaum leisten konnte, aus Raketenangst den Job aufzugeben (mittlerweile wurden arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen für Scud-Flüchtlinge erlassen).
Zudem wollen viele Menschen ihre Wohnungen nicht im Stich lassen. Hartgesottene Diebe scheuen nicht davor zurück, während des Alarms in eine (aus Sicherheitsgründen unversperrte) Wohnung einzudringen und schnelle Beute zu suchen, während die Familie im gasdichten Raum zitternd der Entwarnung harrt. Die psychische Abnutzung durch den Raketenterror ist in der gesamten Bevölkerung deutlich spürbar. Während der Alarmierungen gab es schon mehrere Todesfälle durch Herzattacken oder Ersticken unter falsch aufgesetzten Gasmasken.
Unter Waghalsigen ist dagegen „Scud-Schauen“ zur Mode geworden, vor allem in den weniger gefährdeten Regionen. Auch Palästinenser in den besetzten Gebieten lassen sich das Nachtspektakel nicht entgehen. Extrem ist die Lage in der Altstadt von Jerusalem, wenn sich bei Raketenalarm anfeuernde Pfiffe und „Allah-u-Akbar“-Rufe aus dem arabischen Vierteln mit den Gesängen aus den Torah-Schulen des jüdischen Teils mischen.
Wenn der 35jährige Yassir vom Dach in Jerusalem aus die irakischen Raketen gen Tel Aviv donnern sieht, ist er stolz: „Es wurde Zeit, daß den Israelis eine Lektion erteilt wird. Ich sehe zwar nicht gerne Menschen sterben, aber sie sollen selbst sehen, wie es ist, wenn das eigene Haus zerstört wird.“ Der Araber bezieht sich dabei auf Häusersprengungen durch Israels Militärs in den besetzten Gebieten. Yassir, der sich weigerte, seine Gasmaske in Empfang zu nehmen („Meine Brüder in Westbank und Gaza erhielten keine, ich würde mich schämen, sie zu benutzen“), genießt das Gefühl, die vermeintliche israelische Unverwundbarkeit in Trümmern liegen zu sehen. „Ich dachte bis jetzt, die hätten alles, bis hin zu Strahlenwaffen an den Grenzen, mit denen sie alles vom Himmel holen können.“
„Ich kann mich nicht freuen“, meint hingegen Fahmi Nashashibi, Besitzer eines Ostjerusalemer Hotels für 170 Gäste, das seit November mit null bis sechs Personen belegt ist. „Als Palästinenser muß ich natürlich Saddam Hussein unterstützen. Was erwartet man von uns, nach 23 Jahren Besatzung?“ Der Gedanken hingegen, daß Raketen blind in Wohngebiete gefeuert werden und dabei auch Kinder und Frauen getötet werden könnten, dürfe niemanden glücklich machen.
Seit zwei irakische Scud-Raketen im Westjordanland niedergingen, hat die israelische Regierung in Jerusalem ein psychologisches Beratungszentrum in arabischer Sprache eingerichtet. Gleichzeitig dauert die Ausgangssperre für Palästinenser in den besetzten Gebieten seit 16. Jänner an; Ärzte beklagen, daß die Versorgung der Kranken stark erschwert worden sei. In Jerusalem wurde ein als moderat bekannter Palästinenserführer, der Philosoph Sari Nusseibah, als „irakischer Spion“ ohne Gerichtsverfahren zu sechs Monaten Administrativhaft verdonnert. Im libanesischen Grenzgebiet wurden PLO-Angriffe mit Katjuscha-Raketen durch israelische Attacken auf Palästinenserstellungen und auch auf Flüchtlingslager beantwortet..
Ein Teil der Israel in der Bedrohung zugewachsenen Sympathie drohte wieder verlorenzugehen. PLO-Chef Yassir Arafat glich das aus, indem er im französischen Fernsehen behauptete, Israel wäre „von Beginn an vollständig in den Krieg verwickelt“ gewesen. In Wien stellte sich Arafats Außenminister Farik Kaddumi – von Alois Mock respektvoll als „Exzellenz“ empfangen – demonstrativ an die Seite Saddam Husseins.
Aus Israel sind vereinzelt aber auch ganz andere Töne zu hören. So wird erzählt, daß manche arabische Israelis ihre jüdischen Freunde mitgenommen hätten, als sie aus der gefährdeten Küstenregion zu Freunden oder Verwandten in die weniger bedrohten besetzten Gebiete gezogen sind.
Aus Angst vor Repressalien beider Seiten zeigen sich diese Freunde über die Gräben des Hasses hinweg allerdings nicht in der Öffentlichkeit.
Profil, Nr. 6, 4. Februar 1991