Interview mit einer der bedeutendsten spanischen Schriftstellerinnen, der Mallorquinerin Carme Riera, seit 2012 Mitglied der Real Academia Española, wo sie den Sitz für den Buchstaben „n“ innehält.
Carme Riera ist die derzeit bekannteste mallorquinische Autorin. Viele ihrer Romane sind auch in Deutschland erschienen, allerdings ist von den deutschen Ausgaben derzeit nur ihr bislang erfolgreichster Roman, “Ins fernste Blau” (Lübbe Verlag), erhältlich. Dieser wurde 1995 mit dem Spanischen Staatspreis für Literatur und vor kurzem mit dem Vittorini-Preis für das beste auf Italienisch übersetzte Buch des Jahres ausgezeichnet
Riera wurde 1948 in Palma geboren und lebt heute in Barcelona. Sie ist Professorin für spanische Literatur, schreibt ihre Bücher jedoch auf Katalanisch. Die “Mallorca Zeitung” sprach mit Carme Riera über Literatur, Mallorca und ihre Heimatstadt Palma. Das Gespräch fand in der Kantine der Privatklinik Rotger statt. Dort betreute die Autorin, die u.a. in einer Fernsehdokumentation über die von Baustellen, Müll und Lärm geplagte Inselhauptstadt herzieht, ihre 79jährige Mutter, die sich bei einem Sturz über eine lose Gehsteigplatte schwer verletzt hatte.
MZ: Was stört Sie an Palma?
CR: Die Stadt ist widerlich und schmutzig geworden, und sie ist eine der lautesten Städte der Welt, und ich habe einige kennengelernt. Man kommt sich zeitweise vor wie in der Dritten Welt. Ich verstehe überhaupt nicht, warum so viele Touristen sie noch besuchen.
MZ: Viele halten Palma für eine wunderschöne Stadt.
CR: Das ist sie auch. Aber seit geraumer Zeit geht es mit der Lebensqualität in Palma abwärts. Das beginnt schon mit dem Flughafen. Der Weg vom Auto zum Flugzeug nimmt mehr Zeit in Anspruch als der Flug. Und was für ein Gebäude! Man wähnt sich in Dallas oder Atlanta, aber dort haben sie wenigstens eine U-Bahn, die Passagiere rasch zum Flugsteig bringt.
MZ: Wann haben Sie Palma verlassen?
CR: Mit siebzehn Jahren.
MZ: Wann und warum haben Sie beschlossen, auf Katalanisch zu schreiben?
CR: Ich war zwanzig Jahre alt. Für mich kam es nie in Frage, literarische Texte auf Spanisch zu schreiben.
MZ: Obwohl Sie Ihre Schulbildung auf Spanisch erhalten haben …
CR: Zunächst prägte mich die Art, in der mir meine Großmutter Geschichten über ihr Leben und die Familie erzählte. Ich wollte das bewahren. Die Erinnerung ist sehr wichtig für mich. In einem meiner Romane lasse ich eine Figur sagen: Ich gebe dir alles, was ich habe. Und damit meint sie die Erinnerung, die Geschichte ihres Lebens. Der zweite Grund ist politisch. Das Katalanische war die unterdrückte, gedemütigte Sprache.
MZ: Die Entscheidung hat Sie als junge Autorin bestimmt Geld gekostet.
CR: Geld und Preise. Oft hat man mir zu verstehen gegeben, ich würde für einen Literaturpreis in Frage kommen, wenn ich endlich auf Spanisch schreiben würde.
MZ: Immerhin haben Sie 1995 für “Dins el darrer Blau” (“Ins letzte Blau”) den spanischen Staatspreis für Literatur erhalten.
CR: Es war der erste für einen nicht auf Spanisch verfassten Roman. Das illustriert die Situation eher im negativen Sinne.
MZ: Wie hoch sind die katalanischen Auflagen?
CR: Etwa die Hälfte der spanischen.
MZ: Und was sagt Ihre Agentin, die berühmte Carmen Balcells?
CR: Die sagt mir ständig: Schreib doch endlich auf Spanisch, das würde uns eine Menge Geld für Übersetzungen sparen! Doch Sprache ist eine Vision der Welt, und meine Vision ist mallorquinisch. Oft merke ich schon bei der Übersetzung eines Romantitels, dass die wörtliche spanische Übersetzung nicht funktioniert, dass es eigentlich keine genaue Übersetzung dessen gibt, was ich auf Katalanisch sage. Oder es sagt zwar das selbe aus, klingt aber läppisch, während es auf Katalanisch funktioniert.
MZ: Aber Sie sind zweisprachig.
CR: Perfekt zweisprachig. Für die katalanische Tageszeitung “El Periódico” schreibe ich wöchentlich einen Artikel, entweder auf Katalanisch oder Spanisch, und übersetze ihn selbst in die jeweils andere Sprache. Der Artikel erscheint dann in den entsprechenden Versionen in der katalanischen wie in der spanischen Ausgabe dieser Zeitung. Meine literaturwissenschaftlichen Aufsätze verfasse ich meist auf Spanisch. Aber sobald ich selbst literarisch werde – nur Katalanisch.
MZ: Ihre Romane behandeln stets die Vergangenheit. Warum machen Sie sich nicht an zeitgenössische Themen heran, etwa das Mallorca von heute?
CR: Aus meiner Sicht ist der Roman nicht das geeignete Vehikel. Eine Fernsehdokumentation, gut. Ein Artikel in der Zeitung, einverstanden. Aber in Romanen geht es um die Erinnerung.
MZ: Wie arbeiten Sie?
CR: Zuerst lese ich alles, aber wirklich alles, was über ein bestimmtes historisches Thema geschrieben worden ist. Da bin ich vier bis fünf Jahre lang am Werk. Den Roman schreibe ich dann in wenigen Monaten, und ich werfe dabei kaum noch einen Blick auf meine Recherche-Notizen. Die Recherche ist wie die Vorbereitung auf eine Prüfung, und das Schreiben ist dann das Examen.
MZ: Sie schreiben viele Kurzgeschichten. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet in einer Gesellschaft der minimalen Aufmerksamkeitsspanne die kürzere Erzählform weniger populär und verkäuflich ist als der Roman?
CR: Das ist kein Widerspruch. Eine Kurzgeschichte ist eine Miniatur und verlangt volle Aufmerksamkeit. Bei einem Roman kann man schon mal den Faden verlieren oder längere Lesepausen einlegen.
MZ: Verspüren auch Sie die vielzitierte Angst des Autoren vor dem leeren Blatt Papier?
CR: Überhaupt nicht, eher im Gegenteil: Ich habe Angst vor dem beschriebenen. Das ist furchtbar. Zu lesen, was man selber geschrieben hat. Das Schreiben selbst ist ein Vergnügen.
MZ: Sie haben auch mal das Drehbuch für eine Fernsehserie verfasst.
CR: Ja, 1997 fürs katalanische Fernsehen. Eine tolle Erfahrung, und sehr gut bezahlt. Ich musste mir nur die Geschichte ausdenken, und dann hat sich ein Team von Schreibern darüber hergemacht. Am Schluss kam alles zur Absegnung wieder zu mir.
MZ: Wäre das auf Dauer etwas für Sie?
CR: Nein, das war nämlich Teamarbeit, mit Konferenzen und Besprechungen. Ich arbeite am liebsten allein.
MZ: Wie sehen Sie die Zukunft des Buches, des Lesens?
CR: Immer weniger Menschen lesen, aber “libro” (Buch) kommt von “libre” (frei), ich halte also nichts davon, Menschen zum Lesen zu zwingen. Lesen hilft, glücklich zu sein und etwas über sich selbst zu erfahren, und wenn einer das nicht will, ist es sein Problem.
MZ: Und was halten Sie vom elektronischen Buch?
CR: Wenn mal ein vernünftiges auf dem Markt ist, wo ich mit einem Buch zehn Romane mit auf die Reise nehmen kann, bin ich die erste Käuferin. Aber wie ein Buch aus Papier wird es nie sein.
MZ: Was fühlen Sie, wenn Sie heute zum Urlaub auf Ihre Heimatinsel zurückkehren?
CR: Zunächst kann ich jeden Deutschen verstehen, der hier leben will. Ich würde genauso handeln. Wenn man Palma einmal hinter sich gelassen hat, ist Mallorca die schönste Insel des Mittelmeers. Und wenn ein Mallorquiner seine prächtige alte Possessió und damit sein kulturelles Erbe verkauft, ist das ein Problem des Mallorquiners, nicht des Deutschen.
MZ: Und was wünschen Sie sich vom Deutschen?
CR: Er soll sich ein Beispiel am Erzherzog Ludwig Salvator nehmen: Mallorca bewahren und sich für die Kultur interessieren. Dieser Österreicher hat sogar Mallorquinisch radegebrochen. Wenn irgendein Millionär nur seine Millionen hertransferiert und sonst mit der Insel nichts im Sinn hat, finde ich das wirklich ekelhaft.
MZ: Wie sieht die Zukunft Mallorcas aus?
CR: Ein Reservat für Millionäre, ein Konzentrationslager für Billigtouristen und eine tödliche Falle für die Mallorquiner.
Mallorca Zeitung Nr. 18, September 2000