Erlebnisbericht über den Besuch der Höhlen von Génova – die City-Grotte von Palma oder: Ausführungen zum Phänomen natürlicher Dunkelheit
Ich bewundere den Mann. Nein, wirklich, das ist keineswegs ironisch gemeint. Minutenlang hält er sein fünfköpfiges Publikum im Bann, indem er über eine zwei Quadratmeter große, zehn Zentimeter tiefe Wasserlache referiert. Wie klar das Wasser sei. Wie man sich mit ein bisschen Phantasie vorstellen könne, das sei viel, viel tiefer. Wie sich darin die Höhle spiegelt und die Taschenlampe, die unser Höhlenführer schwenkt. Ist das nicht “fantástico”?
Meine Begleiter, zwei dänische Ehepaare, sind hingerissen von den retorischen Tiefen bzw. Höhen, in die sie unser Expeditionsleiter führt, und nicken andächtig in die Wasserlacke hinein.
Formal ist dies ein weiterer Bericht über die unterirdischen Sehenswürdigkeiten Mallorcas, aber ganz unter uns: Ich würde die Kategorie Schaustellerei für angemessener halten. Damit sei der Höhle von Génova keineswegs ihre Schönheit abgesprochen. Schon der Zugang ist spektakulär, man muss sich nämlich zwischen Tischen mit Bierhumpen und einem üppigen bewachsenen Garten mit grinsenden Gartenzwergen in eine Senke hinabwagen, wo dann die traditionelle Gittertür das Eindringen ohne Entrichtung des 900-pesetigen Obolusses verhindert, und ein Schild warnt: “Nicht ohne den Führer einzutreten”. Was man tun soll, nicht ohne den Führer einzutreten, sei dahingestellt, ich versuch’s erst gar nicht. Tatsache ist: An einem “Estrella Damm”-Zapfhahn geht auch mein Höhlenticket über den Tresen.
Mallorca ist, ich hab’s schon hundertmal erwähnt, voller Überraschungen. Selbst wo man meint, es gebe gar nichts, tut sich plötzlich ein Löchlein im Boden auf und lockt hinab in eine tropfsteinige Wunderwelt. Auch die Inselhauptstadt besitzt eine Höhle auf ihrem Territorium, und wenn man es recht bedenkt, spiegelt deren Dimension die klassischen Unterschiede zwischen einer Land- und einer Stadtbehausung wider. Stellen wir uns die Höhlen von Drach oder die von Artà als aristokratischen Landsitz vor, und die von Génova als moderne Stadtwohnung eines kleinen Angestellten. Das wäre dann also geklärt.
Das eigentlich Tolle, abgesehen von des Höhlenführers ausgedehnter Diskurs über eine Wasserlacke (der See in der Drachhöhle ist 177 Meter lang, aber kaum ein Wort wird über ihn verloren), ist die Umgebung des Höhleneingangs. Der befindet sich in einer verschlafenen Seitengasse des zu Palma gehörenden Dörfchens Génova. Zwischen einem Tabakladen, einem Restaurant, einem schottrigen Parkplatz, einer ”Penny Robert’s School of Cookery”, drei Müllcontainern und einem Appartementblock öffnet sich eine kleine Senke im Gelände, die vom Restaurant “Ses Coves” (aha!) mit Tischen und Stühlen und Pflanzen und Coca Cola-Schildern ausgeschmückt wurde. In dieser hübschen, schattigen Oase sammeln sich die Höhlenbesucher und wahrscheinlich betet unser Grottenerudit jedesmal, dass die Leute noch nicht in Artà oder in Drach waren.
Jedenfalls führt er sie munter in die Tiefe. Erste Attraktion ist die Außenmauer eines Wasserspeichers, bei deren Bau 1906 die Höhle entdeckt wurde. Der Speicher wurde trotzdem mitten in die unterirdische Wunderwelt hineingemauert, aber dafür können wir sie jetzt besichtigen, sonst säßen wir oben im Garten und schlürften unser Estrella Damm und wüssten gar nichts von der Pracht unter unseren vier Buchstaben.
Wir kommen zur ersten Lacke, dem “Lago de los Deseos” (See der Wünsche). Er ist so klein, dass einer der Dänen genau zielen muss, um seine 100 Peseten-Münze auf den Grund zu setzen, der übrigens voll ist mir 25ern. Großer dänischer Wunsch in kleiner spanischer Lacke. Aviso: Ab 1. Januar ist die “Pfütze der Wünsche” auf Euros umgestellt.
Andererseits kommen mir die Höhlenkonzerte in den Sinn, denen ich bisher unvermeidlich ausgesetzt war: Ruderboote mit Live-Musikanten durchpflügen und –dudeln bekanntlich jeden schiffbaren unterirdischen See der Insel. Hier in Génova stellt sich allerdings ein Platzproblem, höchstens ein ferngesteuertes Spielzeugboot mit eingebautem Tonband wäre manövrierfähig, aber dafür fehlt der Humor.
Das Konzert findet trotzdem statt. Unser Guide höchstselbst nimmt das musikalische Rahmenprogramm in Angriff, indem er die akustischen Eigenschaften der Tropfsteine demonstriert und gar nicht mehr innehalten kann: klingklongklingklong, dungdongdungdong, klingklangklongdungdong. Ein Zeigefinger geht in die Höhe, das Publikum hält den Atem an. Echo!
Unglaubliche Dinge, die einem unter Tage begegnen. Einzigartig auf Mallorca, versichert unser Höhleologe, seien die “koralloiden” Formationen, eine Art Blumengesteck aus Mineralien, von Mutter Natur in jahrtausendelanger Heimarbeit fabriziert. Hand aufs Herz: Das ist in der Tat außergewöhnlich und sehenswert, und wenn der Guide zu einer spektakulären Mischformation Supermarkt sagt und die wissenschaftlichen Begriffe in Brokoli, Kartoffeln und Champignons übersetzt, dann ringt das Bewunderung ab, er übersetzt sie nämlich auf Dänisch, womit ich – ethnische Minderheit – vor der Tür stehe.
Interessant die Risse quer durch die Felsen, dem Führer zufolge auf ein Erdbeben vor zweitausend Jahren zurückzuführen. An mancher Wand hängt ein zarter Mineralienschmetterling, auch er eine Schöpfung des Zufalls. Hingegen scheint “Socke für den Weihnachtsmann” selbst für das mittlerweile zu allen Phantasieanstrengungen bereite Publikum ein wenig weit hergeholt. Dafür freut man sich an den hauchdünnen “Spaghettistalaktiten”, obwohl hier eine konkrete Frage den Höhlologen kurz ins Brabbeln bringt: Wie alt denn diese Formationen genau seien? Sehr schwer zu sagen, man müsste sie messen und dann rechnen, aber das sei gefährlich, die leiseste Berührung und “klirr”. Jedenfalls habe diese Höhle noch ein enormes Potenzial, sie wachse nämlich stets weiter.
Übersetzt heißt das: Kommen Sie in tausend Jahren wieder und Sie werden staunen, was sich alles getan hat. Stalaktiten wachsen nämlich in hundert Jahren nur einen Zentimeter, wie ich in Artà erfahren habe (oder wachsen City-Stalaktiten – immer hektisch, diese Städter – schneller?).
Aber unser Höhlologe hat schon das Thema gewechselt und referiert über das faszinierende Phänomen, dass hier, in der Höhle von Génova, ohne das elektrische Licht absolute, voll-kom-me-ne Dunkelheit herrscht.
Keinen Schimmer? Genau. Aber wer hier Potenzial beweist, ist unser Höhlenführer, denn er hat seine Dänen restlos glücklich gemacht.
Mallorca Zeitung Nr. 75, Oktober 2001