Die Kaktuspflückerin (Online-Rezension)
Rita Kleefman, holländische Versicherungsdetektivin, soll das dubiose Verschwinden eines kürzlich erst aufgefundenen aztekischen Monolithen aus dem 16. Jahrhundert aufklären. In Mexiko City sind vom Bauminister bis zum Vorstand des Archäologischen Instituts alle in die steinige Geschichte verwickelt. Der Fall erweist sich als vertrackt, weil es nicht nur um den Betrug der hohen Versicherungssumme geht, sondern auch um nationale Interessen und postkolonialistische Herrschaftsansprüche. Gemeinsam mit Oscar, einem mexikanischen Journalisten, und mit Hilfe von Flor, einer jungen Fotografin, verfolgt die Detektivin hartnäckig die Spuren des Steins. Oder genauer: der Steine, denn plötzlich gibt es mehrere davon. Mit raffinierten Ablenkungs- und Täuschungsmanövern versucht Rita, das Geheimnis zu lüften. So viel sei gesagt: Sie hat es dabei nicht leicht und gerät in äußerst gefährliche Situationen.
Der Plot ist komplex. Auch deshalb, weil Mexiko nicht einfach nur exotische Kulisse eines Krimis ist, sondern die (Kultur-)Geschichte des Landes den zentralen Angelpunkt des Romans ausmacht. Der Umgang mit der Historie ist für die Mexikaner nicht unkompliziert, wollen sie doch die Eroberung durch die Spanier im 15. und 16. Jahrhundert und die Zerstörung der Indiokulturen lieber verdrängen – und damit auch die Unterdrückung der indianischen Bevölkerung im heutigen Staat und den Raub ihrer Kunstschätze. Es gelingt dem Autor, der mehrere Jahre in Mexiko gelebt hat, diese Zusammenhänge authentisch darzustellen.
Der Roman hat alle Ingredienzen einer packenden Kriminalgeschichte: eine sehr sympathische Hauptfigur, ein brisantes Verbrechen, Liebesgeschichte(n), Korruption unter Politikern, psychologisch gut motivierte Tatgründe und eine fesselnde Aufklärung des Falls. Es wird aus unterschiedlichen Erzählperspektiven und von mehreren Schauplätzen aus berichtet, die einzelnen Handlungsstränge verlaufen zeitlich parallel (zu Beginn beispielsweise der Fund des Steins und der Rückblick auf Ritas Vergangenheit) und kommen später zusammen.
Rita ist eine Identifikationsfigur: intelligent, mutig, schlagfertig, nüchtern-realistisch und gleichzeitig gefühlvoll. Sie nimmt die Herausforderung dieses Monsterfalls an, auch um sich selbst ihre Fähigkeiten zu beweisen. In der mexikanischen Welt der männlichen Überheblichkeit und der weiblichen körperlichen Reize bieten sich dazu genug Anlässe. Denn das System der zwischenmenschlichen Beziehungen beruht auf einem Spiel der Andeutungen, auf das sich Rita gekonnt einläßt, ihre Gegner aber immer wieder durch ihre direkte Art auflaufen läßt. Es ist vergnüglich, den verbalen Dialogspielereien zu folgen und der Aufklärung entgegenzufiebern. Die Lösung hat mit dem Relief des Monolithen zu tun, aber mehr sei nicht verraten.
Ivette Löcker
2. Dezember 1998