Jahre her: Beim Presserummel anlässlich der Ausstellung eines berühmten Pinslers entdeckte ich eine dünne Frau mittleren Alters, die in der Rechten eine Videokamera hielt, in der Linken ein Mikrofon an einer Stange (für Experten: eine „Tonangel“), und Redakteur war auch keiner dabei. Sie stellte die Fragen selbst, war sichtbar überfordert und zitterte nervös. Ich vermute, dass sie überdies alleinerziehende Mutter mit einem pflegebedürftigen Opa war. Nicht witzig, ich weiß.

Ihre Nervosität war nachvollziehbar. Bei Dreharbeiten sind Dreierteams das unterste Minimum, denn Bild, Ton und Inhalt erfordern ausschließliche Aufmerksamkeit, es sei denn, die Qualität ist wurscht. Doch der technische Fortschritt bringt die rein materiellen Barrieren zum Fall. Und wenn ein moderner Manager Sparpotenziale erspäht, brechen alle Dämme.

Mein Multitasking-Schlüsselerlebnis hingegen fand am unwahrscheinlichsten aller Orte statt: In der WC-Anlage einer Zeitungsredaktion, bei der ich mich damals im Kulturressort versuchte, bemüht, meine Artikel mit dosiert eingestreuten Fachbegriffen zu veredeln, um die Leserschaft zu beeindrucken. Seit der Filmtrilogie „Matrix“ wissen wir: Verstehen ist egal, Hauptsache es klingt gut.

Ich stand also am Pissoir, da kam ein Kollege von der Vertriebsabteilung herein, in der Rechten ein Handy, in der Linken einen angebissenen Apfel. Er führte ein angeregtes Gespräch und stellte mit seinem Stimmvolumen sicher, dass mir nichts entging. Ich dachte, der führt das Gespräch noch zu Ende, legt den Apfel irgendwo ab und bieselt dann.

Doch nein, er schritt umgehend zur Tat. Und ich fragte mich: Wie macht er das jetzt?

Ich konnte ihn nicht direkt anstarren, wie er nun ebenfalls ans Pissoir trat und machte, was man dort tut, während er weiter sein Gespräch führte und den Apfel aß. Ich beobachtete die Szene aus dem Augenwinkel, daher kann ich die technische Umsetzung nur in Umrissen beschreiben. Seine anatomischen Limitationen – nur zwei Hände – erzwangen mindestens eine freihändige Tätigkeit. Also klemmte er sein Handy zwischen Schulter und Wange, während er mit der Linken in extrem kurzen Gesprächspausen den Apfel in den Mund steckte und mit der Rechten das Schniedelwutz-Management besorgte. Der perfekte Dreiklang dieser „Tasks“ faszinierte mich, der ich an diesem Ort nur einen mentalen Fokus kenne, bodenlos.

Wie ich weiter über Multitasking nachdenke, fällt mir ein, dass heutzutage etliche Dienstleistungen an den Kunden ausgelagert werden, dass wir immer öfter Kunden und Bedienung zugleich sind. Der Bankkunde quält sich als sein eigener Schalterbeamter durch das Online-Banking-Labyrinth. Kaufhäuser bringen uns bei, uns selbst als Kassiere zu bedienen. Wer Flugticket und Hotel bucht, wird zu seiner eigenen Reiseagentur. Irgendwann werden Fluglinien verbilligte Tickets anbieten, wenn man den Airbus selbst pilotieren oder beladen möchte.

Apropos: Aufgrund meiner gestörten Beziehung zu Anglizismen dachte ich über eine griffige deutsche Übersetzung für Multitasking nach. Ergebnislos. Also bemühte ich Google und gab ein: „Multitasking Deutsch“. Das erste Resultat war eine Übersetzung vom Spanischen ins Deutsche. Spanisch: Multitasking. Deutsch: Multitasking.

Auch verarschen kann ich mich nun schon vollkommen alleine.

Anmerkung zur Illustration: Ursprünglich hatte ich das Foto eines bemerkenswerten Pissoirs vorgesehen. Aber irgendwie … in meinen Hamburg-Fotos fand ich dann dieses aus dem Innenraum des sowjetischen U-Bootes U-434, das als Museum am Elbe-Ufer liegt. Als Symbolbild für Multitasking jetzt auch nicht schlecht.

Kolumne in der Inselzeitung Juli 2024