Artikel über einen Vorarlberger Abenteuerer, der seit einer Wirtshauswette und Jahre vor der Einführung des Bungee-Jumping in Europa Sprünge von extrem hohen Brücken zu seinem Hobby machte.
Jeder hat sein Hobby, Thomas Burtscher springt halt von Brücken – was soll’s? Der 24jährige Großwalsertaler ist Expeditionsbergsteiger, Skilehrer, Bergführer und Spengler und braucht dieses „Feeling auf Knopfdruck“, das ihm der 50 bis 100 Meter tiefe Sturz ins Seil vermittelt. Kurz: Wenn’s ihn juckt, dann juckt er.
Gestern vormittag, Treffpunkt Lingenauer Brücke. Nicht ganz schwindelfreie Normalverbraucher tapsen dem Geländer entlang Richtung Mitte, wo’s ca. 90 Meter in die Tiefe geht. Normalerweise springt Thomas Burtscher von der Großdorfer Brücke (102 m), weil dort wenig Verkehr ist. Die Lingenauer Brücke kennt er nicht, also klettert der gute Mann – er ist vollkommen ungesichert, die Umstehenden sind verunsichert – übers Geländer, wippt und prüft und fühlt sich wohl, während sich Freundin Inge abwendet und – die Hände vor den Augen – sagt: „I ka eam net zuluaga.“
Begonnen hat das fröhliche Brückenspringen im vergangenen Herbst mit einer Stammtischwette. Ob ein Bergsteiger den Sturz ins Seil unverletzt überstehe, war die Frage. Als dann eine Kiste Bier auf dem Spiel stand, fuhr Burtscher am nächsten Tag auf die Brücke, band sich ein Seil um und sprang. Seither geht er auch mit Bergsteigerfreunden auf ein Sprüngchen, und am 6. Dezember hat er mit einem Sprung von der Europa-Brücke bei Innsbruck die „magische Hundert-Meter-Marke“ durchbrochen. Als er sich dann in Bergsteiger-Manier wieder hinaufgehangelt hatte, erwartete ihn ein Gendarm zur Beamtshandlung: Über 1000 Schilling Strafe.
Der gestrige Sprung kostete etwa 2000 Schilling. Soviel ist das nagelneue Seil wert, das etwa zwei Tonnen aushält, etwa eineinhalb auch ausgehalten hat, jedoch beim Scheuern über die rauhen Betonkanten Schaden nahm. Ein zweites Seil hat ihn noch gesichert, denn er macht das „zum Spaß“ und nicht, weil ihn etwa das Risiko reizen würde. Die „Überdosis“, wie es im Brückenhupfer-Jargon heißt, ist das Fallen ohne Fallschirm, Drachengleiter oder sonstige Hilfsmittel. Thomas läßt einen lauten Jauchzer ab, nachdem er uns mit einem Balanceakt auf dem Brückengeländer, 90 Meter über der Bregenzerach, ein bißchen geschockt hat.
Als „Wahnsinniger“ sieht sich der Großwalsertaler nicht, weil er mit Konzentration, Fachwissen und dem entsprechenden Materiel jedes Risiko so weit als möglich ausschaltet. Burtscher springt nicht senkrecht geradewegs ins Seil, sondern etwas versetzt, wodurch das 50 bis 100 Meter lange Seil zu einer riesigen Schaukel wird, an der unten ganz klein der Thomas baumelt und jodelt vor Vergnügen.
Wenig vergnüglich findet Freundin Inge die Hupferei. Aber sie akzeptiert das Hobby des rothaarigen Abenteuers, steht ihm sogar helfend zur Seite. Und vor dem Abflug reicht sie ihm noch eine Selbstgewuzelte.
Neuen Vorarlberger Tageszeitung, 1. Juni 1985