Ibiza ist bis heute ein Labor für alternative Lebensstile – ein Lokalaugenschein
Vor ungefähr zwanzig Jahren sah ich einen Werbespot, der ging ungefähr so: Junger Taxifahrer in New York erlebt einen schlechten Tag. Alle Welt ist nervös und aggressiv, Passanten und Autofahrer schreien herum, die Wolkenkratzer ragen auf wie Monumente der Geldgier, und zu allem Überfluss steigt ein bildhübsches Mädchen zu, das sich von einem schmierigen Millionär ansabbern lässt. Angeekelt von diesem Panorama menschlicher Dekadenz lässt der Mann das Taxi samt Passagieren im Verkehrsstau stehen und marschiert zum Flughafen, weil er nur noch eines im Sinn hat: Weg von hier. Wenn ich mich recht erinnere, war es Werbung für eine Fluglinie. Die wichtigste Information wurde dem Zuschauer freilich vorenthalten: Wohin flog der Mann?
Zyniker würden antworten, das sei egal, die Menschen seien überall gleich. Doch die Geographie scheint mehr zu sein als nur Landschaft, denn Ortsnamen sind immer wieder zu Synonymen für neue Lebensstile geworden. In den Sechzigern und Siebzigern, als zuerst Revolte, dann Aussteigen angesagt war, hießen diese mythischen Sammelplätze für den Aufbruch zum neuen Menschsein Katmandu, Poona, Goa, San Francisco, Marrakesch und Ibiza.
Ibiza heute. Dreißig Jahre sind vergangen, seit die Blumenkinder die Pityusen-Inseln im Sturm nahmen und ausgerechnet im Reich des Militärdiktators Francos, in einer der politisch rückständigsten Gesellschaften Europas, das Paradies fanden. Rebellion und “Anderssein” in Verhalten und Kleidung gehören noch immer zum Image Ibizas, aber es ist eine dünne und oft genug nichtssagende Fassade.
Spaziergang an der Uferpromenade von Ibiza-Stadt. Im Café “The other Place”, zu dessen Emblemen ein ausgestreckter Mittelfinger und ein wilder Rocker auf seiner Harley Davidson gehören, trinken biedere Pauschaltouristen ihr Bier. Die Rebellion hat sich in einen Modeartikel verwandelt, das Aussteigen in ein Produkt der Unterhaltungsindustrie. Man sieht sie noch, die Überbleibsel der frühen Siebziger, mit indischem Knallfarbendress, alternativem Haargestrüpp und keinem Handy. Man könnte sie für arme Irre halten, die nicht gemerkt haben, dass ihre Veranstaltung längst geendet hat, aber man könnte sich auch täuschen. Die klassische, eine Blume mit sich tragende Hippie-Dame, die mir beim Mittelalter-Markt in Dalt Vila über den Weg läuft, sehe ich später in Can Sort wieder. Dort, und an vielen anderen Orten, ist das Experiment noch in vollem Gange, ja mehr, hat es die Nagelprobe der Alltagstauglichkeit bestanden und leistet gesellschaftspolitische Pionierarbeit.
Die Rede ist vom Kosmos der ökologischen Landwirte und alternativen Haushalte. Statten wir Can Sort einen Besuch ab, ein Landgut weit weg vom Disco-Gebrodel, wo jeden Samstag eine kunterbunte “Vereinigung der Freunde von Can Sort” einen “Mercado de Campo” mit Naturprodukten abhält und ein Büffet mit Naturkost anbietet. Der Markt besteht aus wenigen Ständen, die Küche mit dem Naturbüffet ist winzig, aber der Zustrom gewaltig und das Publikum genau so divers, wie man es sich von Ibiza – Motto: Hier darfst du anders sein – erwarten kann. Da sichte ich einen Krawattenträger, der direkt aus dem Büro herangesaust kam, um noch etwas von den Öko-Crepes, dem Öko-Kaktussalat oder dem Öko-Couscous abzukriegen. Ein paar ältere Schweizer fachsimpeln über den Aufschwung der Naturproduktewirtschaft, während sie an deutschem Öko-Bier nippen. Die Bio-Bourgoisie ist ebenso vertreten wie die Edel-Alternativen, die Späthippies ebenso wie die Spätyuppies, neugierige Touristen – “wollen mal was anderes sehen” – ebenso wie Künstler, die Ibiza ausgewählt haben, um mit dem Universum (und eventuell auch mit Kunden) in direkten Kontakt zu treten.
Alternativer Lebensstil ist hier allerdings auch Teil der Ego-Kultur, alleine zur Förderung des eigenen Wohlbefindens, nicht jenes der Welt gedacht – die improvisierten Parkplätze sind gerammelt voll, kaum einer ist umweltbewusst mit dem Radl da.
Bei allem Gemecker – der Wandel ist erstaunlich. Die Hippiebewegung der Siebziger propagierte Werte, die sich nur schwer auf den alternativen Ackerbau umlegen lassen. Damals hieß die Devise, den materialistischen Wahn hinter sich zu lassen und an mythischen Stränden wie Cala d’Hort und Benirrás den Weg zurück zum einfachsten Leben zu finden, zum Kontakt mit der Natur, den Mitmenschen, sich selbst. Die Devise hieß Freiheit, das Vehikel war die Reise – der Trip nach Poona, der Trip mit LSD. Travelling light war angesagt, aber nicht allen flatterten die Schecks der besorgten Familien nach. Wovon leben? Eine Idee kam auf: Kunsthandwerk mit Leder. Einfach zu erlernen, ohne schweres Werkzeug oder teure Investitionen in Gang zu setzen, die Produktionsstätte konnte das billige Hostalzimmer sein oder die freie Natur, Arbeitszeit und –umfang hingen ganz von Lust und Tagesform ab, und um die Ware anzubringen, reichte es, sie im “Patio de Armas” am Eingang zur Dalt Vila (Oberstadt) auf einem Tuch auszubreiten.
Es war die Geburtsstunde der berühmt-berüchtigten “Hippie-Märkte”. Berüchtigt, weil rasch als Entertainmentfaktor erkannt und fugenlos in die Tourismus-Industrie integriert. Der bekannteste “Hippie-Markt”, jeden Mittwoch in Punta Arabí bei Santa Eulària des Riu, ist eine straff organizierte Veranstaltung mit Ordnungsdienst und gesalzenen Parkplatzgebühren, also anti-hippie, dass es nur so knistert. Neben echtem Kunsthandwerk, das von originellen Typen eigenhändig produziert wird, geht asiatische Massenware über den Tisch. Aber das können Sie in jedem Reiseführer nachlesen.
Ist der “Hippie-Markt”, touristisch gesehen, die Mühe wert? Probieren Sie den von Sant Carles (jeden Samstag), eine angenehme Veranstaltung unter dem Schatten einer riesigen Laube. Dort sehen Sie Charaktere wie den Spanier Clemente, der in Australien gelernt hat, wie man Aborigine-Blasröhren (“Didgeridoos”) bastelt. Heute stellt er sie aus mediterranem Material her, “hand made Ibiza”. Ein “Tröt” und schon fühlt man sich ausgeglichener. Holzfiguren in Tantra-Stellungen stammen wahrscheinlich aus dem krachbillig produzierenden Indonesien, aber immerhin, für die Animation der Neckermänner ist gesorgt. Die mysteriös blickende Tarotlegerin darf auch nicht fehlen, und ein Stand mit breiter Auswahl an Objekten und Literatur zum Thema Cannabis schließt an die Symbole der Hippie-Bewegung an.
Wie aber ist die Bio-Welle nach Ibiza geschwappt? Ein Buch machte es möglich. 1973 erschien in Frankreich “Savoir revivre”. Der Autor Jacques Massacrier und seine Familie hatten auf Ibiza eine Finca bezogen und sich dort dem einfachen und naturnahen Landleben verschrieben. Die Beschreibung ihrer Erlebnisse machte die Runde und inspirierte all jene, die in der Stressgesellschaft keine Zukunft sahen und bereit waren, dafür auf Komfort zu verzichten.
Auf keinen Komfort müssen Touristen verzichten, die heute auf Ibiza alternative Landluft schnuppern wollen. In der Hochburg der naturnahen Ferien, Sant Joan, sind neun “legalisierte” Agroturismos gemeldet, die Gemeinde gibt demnächst einen eigenen Prospekt zum Thema heraus.
Die Idee “alternativ leben” hat sich aufgefächert. Auf Ibiza treibt sie alle möglichen Blüten, doch am Anfang, das sei nicht vergessen, stand die Flower Power.
Thomas Fitzner
Zum Thema existiert eine ausführliche Studie der Soziologin Danielle Rozenberg, in Spanien erschienen unter dem Titel “Ibiza, una isla para otra vida”, herausgegeben vom “Centro de Investigaciones Sociológicas”.