„Das Gesamtwerk“ von Fritz von Herzmanovsky-Orlando (Torberg-Ausgabe)
Etwas so Vielschichtiges wie der Esprit einer vergangenen Epoche und eines untergegangenen Reiches passt schwer zwischen zwei Buchdeckel. Die Texte des Exzentrikers und Wortzauberers Fritz von Herzmanovsky-Orlando vermitteln eine Ahnung von den Gefühlslandschaften eines nostalgischen Kakaniers*. Den Untergang des alten Österreich betrachtete er denn auch als „katastrophalste Humorlosigkeit der Weltgeschichte“. Vor diesem kulturellen Hintergrund erzählt er Geschichten, die zumeist als bloße Bühnen für ein Schaulaufen höchster Fabulierkunst dienen und nebenbei Einblicke in eine umfassende humanistische Bildung geben. Den Handlungssträngen geht es dabei wie den Expresszügen im Eröffnungsabsatz seines surrealistischen Reise-Romans „Maskenspiel der Genien“ – schon nach kurzem spielt das Reiseziel keine Rolle mehr:
„Es ist eine traurige, aber unbestreitbare Tatsache, dass die Welt dem Phänomen Österreich mit tiefem Unwissen gegenübersteht … Nicht geringe Schuld an diesem beklagenswerten Zustand tragen die internationalen Fahrplankonferenzen, deren Expresse unter Pomp, Gestank und Donner von irgendeiner Grenzstation abgelassen werden, im Innern Österreichs schon nach kurzer Frist spurlos versickern, nachdem sie irgendwann auf der Strecke durch einen rätselhaften Abschuppungsprozess den Speisewagen verloren haben. Meistens geschieht das in der Gegen von Leoben, diesem Gewitterwinkel des europäischen Reiseverkehrs.“
Es ist nur einer von vielen Reiseberichten durch nichtexistente Länder. Das wichtigste dieser Länder heißt Tarockanien (bei Torberg) oder Tarockei (im Original). Die Protagonisten stolpern von einer verrückten Situation in die nächste, erleben Feste, Rituale, Zeremonien, besuchen Fürstenhöfe, treffen Monarchen und durchgeknallte Beamte, in keinem Wald können sie spazierengehen, ohne dass eine Karawane merkwürdigster Gestalten aus den Büschen bricht – alles wundervoll erzählt, wenn auch ein wenig zusammenhanglos, somit eigentlich eine Aneinanderreihung köstlicher Ideen und Formulierungen, während in den Szenen immer wieder Gestalten auftauchen, über die man eine Menge erfährt, die dann aber verschwinden und für die Handlung keine andere als eine kurzfristig dekorative Funktion wahrnehmen. Müssen sie auch nicht, denn sie sind quasi die Protagonisten von Mikro-Romanen, die in die Handlung als Bonus eingebaut sind, weil der Autor die Bremse nicht fand, wenn er sie denn je suchte.
Wahrscheinlich hat „Das Gesamtwerk“ deshalb mehr als dreißig Jahre lang in meinem Regal geschlummert. Gelegentlich habe ich es zum Blättern und Schmunzeln herausgenommen. Nun habe ich mich durchgeackert und bin fortlaufend auf Szenen und Sätze gestoßen, manchmal gar nur Nebensätze oder einzelne Wortschöpfungen, die mich begeistert und nach einer zugegeben etwas längeren Gewöhnungsphase durch die Distanz von 700 Seiten getragen haben. Zum Beispiel hintersinnige Aphorismen, mit denen auch ein Leser des 21. Jahrhunderts etwas anfangen kann:
„Nach einem kurzen Aufenthalt in Korinth, der Gründung des sagenhaften Königs Sisyphos, dieses Schutzpatrons aller unnützen menschlichen Betriebsamkeit und eigentlichen Vaters der Großindustrie, erreichte man Athen.“
Wieder aus „Maskenspiel der Genien“. Ein Regen aus Situationskomik, subtilem Witz, Klamauk, meisterhaften Dialekt-Dialogen und allgegenwärtigen Humorismen bereits in der Namensgebung prasseln auf den Leser nieder, sodass sich der rote Faden der Story mit einer ungedankten, meist unsichtbaren Nebenrolle zufriedengeben muss. Sein bekanntestes Theaterstück – „Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter“ – spielt an einem Ort namens Wuzelwang am Wuzel. Zur herzmanovsky-typisch breiten Riege der auftretenden Figuren gehören „Drei behördlich konzessionierte Zugs-Ankunfts-Wahrsagerinnen“. Derartige Seitenhiebe klingen verblüffend aktuell, etwa in den Ohren von Kunden der deutschen Bundesbahn.
Für sein altes Österreich sah er eine spezielle Mission als Erbin mediterraner Mythen und als liebenswert übergeschnapptes Mittelding zwischen radikalen Welten, in denen alles viel zu ernst genommen wird: „Der Süden ist grotesk durch seine Unordnung, der Norden durch seine Ordnung. Wir Glücklichen halten die Mitte zwischen Narrenkappe und Pickelhaube.” Dabei nahm Wien eine Sonderstellung ein als „die natürliche Hauptstadt des Balkans“. Wie um seinem Status als heimlicher König der High-End-Schwurbelei Ehre zu machen, fügte er hinzu: „… ich möchte sagen: die Mongolendrüse Europas.“
Der Autor starb 1954, die Erstaufführung seines Theaterstücks „Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter“ erlebte er nicht mehr. Heute gilt er als Geheimtipp der österreichischen Literatur, als ebenso genialer wie liebenswerter Edelspinner, dessen Werk in maximaler Genre-Entfernung zu Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann ein Exotendasein führt.
Fazit: Wer Literatur liebt, die ernsthaft humorvoll aus dem Rahmen fällt, wird reich beschenkt.
MEIN LIEBLINGSZITAT
Herzmanovskys Texte sind an sich eine Aneinanderreihung von Zitaten und formuliererischen Juwelen, die mit chaotischer Zärtlichkeit zu einer Art Handlung zusammengefügt sind. Mein Favorit aus dieser Schatztruhe: „Die Behörden standen vor einem Rätsel, und dort blieben sie auch stehen.“
NEBENBEI ERWÄHNT
Nicht wirklich eine Nebensache, wenn es um die Bewertung und Lektüre dieses einzigartigen Schriftstellers geht, ist die Aufbereitung seines Werks für die Nachwelt. Zu Lebzeiten wurde gerade eine Handvoll seiner Bücher verkauft, worüber zumindest materiell der geerbte Reichtum hinwegtröstete. Fritz von Herzmanovsky-Orlando war berüchtigt unsystematisch, der brillante Literat Friedrich Torberg (dessen deutsche Kishon-Übersetzungen in den 70er Jahren Furore machten) versuchte mit der hier besprochenen Ausgabe des Gesamtwerks Ordnung ins Chaos zu bringen und fing sich damit harsche Kritik ein. Manchmal tut ein meinetwegen auch schmerzhaftes Lektorat einem Text gut. Aber nachdem ich die später von Germanisten neu herausgebrachten Originaltexte nicht gelesen und schon gar nicht mit den Torberg-Bearbeitungen verglichen habe, kann ich nicht mitreden, muss jedoch aufgrund der Kontroverse darauf hinweisen, dass Gegenstand meiner Besprechung die umstrittene Torberg-Ausgabe ist.
*Kakanien war der Spitzname der kaiserlichen und königlichen (k.u.k.) Österreichisch-Ungarischen Monarchie.