„Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenyzin

 

Eine Schnurre des israelischen Satirikers Ephraim Kishon hat zumindest teilweise Schuld daran, dass ich mich jahrzehntelang an dieses Buch nicht herangetraut habe: „Seit bald einem Jahr lese ich Solschenizyns Erzählung ‚Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch‘ und komme über die ersten fünf Seiten nicht hinaus. Auf Seite fünf nämlich heißt es: ‚Galubtschik, sagte Wladimir Pruischtschenko und wandte sich zu Parslejewitsch Tschuptschik um, der am Gartenzaun mit Pjotr Nikolajewitsch Kusnjezewisky plauderte‘. An dieser Stelle bleibe ich unweigerlich stecken und fange das Buch wieder von vorne zu lesen an.

Sein Bonmot über russische Literatur, in dem just ein Text von Solschenyzin zum Opfer seines Spotts wird, brannte die Idee schwer lesbarer Monsterschmöker in meinem Hirn ein, in denen zahllose Figuren mit unmerkbaren Namen vorkommen. Andererseits wurde mir schon als Dreizehnjähriger klar – so alt war ich, als „Der Archipel Gulag“ 1973 erschien –, dass es sich um ein Buch mit enormer Bedeutung und Sprengkraft handelte, an dem ein an Zeitgeschichte interessierter und minimal kultivierter Mensch nicht vorbeikommt. Die Ereignisse rund um den „Archipel“ und Soplschenizyn waren ein Dauerbrenner in TV-Nachrichten und -Dokumentationen. Ich dachte (und denke): Eines dieser Bücher, die jeder kennt und niemand liest.

Jahrzehnte später entdeckte ich in einer Buchhandlung eine „vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe“. Gekürzt! Das war die Gelegenheit. Ich fasste Mut.

Ergebnis: Ich verschlang das Buch in kürzester Zeit und könnte mich ohrfeigen, dass ich die gekürzte Fassung erworben hatte. Dem Rotstift fielen ganze Kapitel zum Opfer, darunter eines über das Wüten der Sowjets in der Ukraine, was mich im Kontext der aktuellen Geschehnisse besonders interessiert hätte. Ich werde also die vollständige Fassung nachkaufen müssen.

Bekanntlich schildert der Autor als direkt Betroffener das System der sowjetischen Gefangenenlager (Gulag) und die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die zu willkürlicher Verfolgung, Misshandlung und Auslöschung von Millionen Menschen geführt hat. Solschenizyn ist ein meisterhafter Erzähler, wobei angesichts des dunkelschwarzen Themas sein leichter, latent zynisch-humorvoller und immens leserfreundlicher Schreibstil beeindruckt. Dabei greift er auf eine bei Sachbüchern hocheffiziente Formel zurück, indem er konkrete Erlebnisse, Erfahrungen und Episoden mit allgemeinen Betrachtungen über Hintergrund und Funktionsweise dieses unfassbar repressiven Systems abwechselt. Es gibt nach all dem Horror sogar eine Art Happy End, und der gelernte Fatalismus gegenüber Leiden in unerträglichem Ausmaß überträgt sich wie eine Philosophie mit Heilwirkung auf den Leser.

Dem Inhalt des Buches steht dessen Entstehungsgeschichte an Dramatik und Suspense in nichts nach. Solschenyzin (1918 – 2008) lebte damals in der Sowjetunion, er schrieb die verschiedenen Kapitel heimlich und versteckte sie getrennt bei Vertrauenspersonen, sodass nirgendwo das gesamte Manuskript lag. Als der KGB ihm auf die Schliche kam, war der „Archipel Gulag“ zum Teil schon in den Westen geschmuggelt worden und erschien zunächst unter einem Pseudonym bei einem französischen Verlag. Man erinnert sich, dass Solschenizyn 1970 den Literaturnobelpreis erhielt und nach der Publikation des „Gulag“ des Landes verwiesen wurde.

Während das Dritte Reich und seine Schrecken in unzähligen Werken analysiert und neu erzählt werden, hinkt die Aufarbeitung des Terrorregimes der Sowjetunion im Vergleich zurück. Das führt u.a. dazu, dass heute nur Wenige in der Gehirn-RAM präsent haben, wie die UdSSR mit Hitler gemeinsame Sache gemacht, am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an dessen Seite mit am Start war und sich einen riesigen Brocken von Polen einverleibt hat. Auch deshalb – nicht nur, weil es sich gut liest und ein wichtiges Thema behandelt – ist der „Archipel“ als qualitativ und auch thematisch recht einsame Insel im Meer der historischen Literatur so wichtig.

MEIN LIEBLINGSZITAT

„Der Archipel Gulag“ spricht nicht nur über die Auswüchse des totalitären Kommunismus sondern auch über die Verfassung des Menschen. Diese universelle Sicht macht einen wesentlichen Reiz des Buches aus. Wie arrangieren man sich im Alltag mit einem menschenverachtenden System? Der Zwang, sich täglich mit harten Konsequenzen zwischen Gut und Böse entscheiden zu müssen, holt die Essenz des Individuums gnadenlos ans Licht. Mein Lieblingszitat handelt genau davon: „Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz.“

NEBENBEI ERWÄHNT

Die europäische Linke hatte nach dem Zweiten Weltkrieg große Schwierigkeiten, die Existenz politischer Konzentrationslager in der Sowjetunion zur Kenntnis zu nehmen. Der Fokus war ganz auf die Bewältigung der nazideutschen Geschichte gerichtet. Berichte über die Auswüchse des Totalitarismus in der Sowjetunion wurden von europäischen Intellektuellen vielfach als eine Art „Fake News“ gebrandmarkt (sieh einer an – die Linke kann das auch). Solschenizyns Buch wirkte in diesem Kontext quasi als Eisbrecher. Vielleicht ist es Zufall, dass in Deutschland im selben Jahrzehnt die TV-Serie „Holocaust“ auch den deutschen Part der Horrorgeschichte in den breiten Massen neu verankerte. Oder die Zeit war einfach reif, sich allen dunklen Aspekten der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen. Kein Zufall ist, dass sowohl in Putins Russland als auch – in weit geringerem Umfang, aber doch – in Deutschland/Österreich einige am Geschichtsbild wieder herumdoktern. Andere sind da noch effizienter. Ich werde mir als Nächstes ein Buch über den türkischen Genozid an den Armeniern suchen, den es ja den Türken zufolge nie gegeben hat, und wehe dem, der anderes behauptet. Das ist kein Whataboutism sondern eine unfolkloristische Umsetzung des Multikulti-Gedankens im Sinne von: Gleiches Recht für alle.