„Hitlers Wien“ von Brigitte Hamann

Was hatte ich mir von diesem Buch erwartet? Vor allem Einblicke in das Leben Hitlers, bevor er nach Deutschland auswanderte und dort „Karriere“ machte. Generell ist ja genau das interessant: Wie waren Menschen, bevor sie berühmt, bedeutend und mächtig wurden? Denn man erhofft sich Antworten auf die Frage, was Menschen dazu bestimmt, berühmt, bedeutend und mächtig zu werden, welche Faktoren dazu beitragen, dass die einen in der Bedeutungslosigkeit versinken, ihre Namen vergessen werden, während andere noch Generationen später weltweit ein Begriff sind, im Guten wie im Schlechten, Gebildeten wie Ungebildeten.

Besondere Bedeutung hat diese Frage für eine geschichtliche Figur wie Adolf Hitler. Denn da schließt sich die nächste Überlegung an: Wäre es möglich, einen zweiten Adolf Hitler zu erkennen, bevor er wichtig und mächtig wird? Und daneben, ich gebe es zu, spielt auch eine morbide Neugier eine Rolle: Wie das war mit dem jungen Adolf, als er noch ein erfolgloser Kunstmaler in Wien war? Mich fasziniert ja das Gedankenspiel, wie jener Professor, der für Hitlers Ablehnung an der Kunstakademie verantwortlich war, später mit dem Bewusstsein fertig wurde, dass die Weltgeschichte möglicherweise anders verlaufen wäre, hätte er den jungen Adolf zugelassen. Wenn sie denn anders verlaufen wäre. Auch das eine Hypothese.

Die leider schon verstorbene Historikerin Brigitte Hamann sah sich einer schwierigen Aufgabe gegenüber, denn Hitler setzte nach seiner Machtergreifung alles daran, die eigene Vergangenheit zu verklären und alle unerwünschten Zeugnisse verschwinden zu lassen. Doch Hamann vollbringt eine fantastische Leistung, indem sie die Mikropartikel an Dokumenten und an Überlieferungen von Augenzeugenberichten, die über Hitlers wahres Vorleben Auskunft geben, in detektivischer Kleinarbeit aufstöbert und sehr analytisch und objektiv in ihre Erzählung einbaut. Was mich jedoch an diesem Buch noch stärker fasziniert und vor allem erschreckt hat, ist die Darstellung der österreichischen Hauptstadt in jenen Jahren, als Hitler mental die ersten Schritte zu seiner Ideologie vollzog. Mir wurde bewusst, wie schrecklich produktiv das damalige Wien als Nährboden war. Und wie ähnlich die Situation jenem der heutigen Europäischen Union ist. Als ich das Buch fertiggelesen zuklappte, befand ich mich für Tage in einer Art Schockzustand. Es klang alles so furchtbar vertraut.

Zitat aus dem Klappentext: „Hitlers Wien ist das Wien der Einwanderer, der Arbeitslosen, der Deutschnationalen in multinationaler Umgebung, der Antisemiten.“ Ich wusste, dass die Österreichisch-Ungarische Monarchie ein multinationales und auch multikulturelles Gebilde war, mit extremen Unterschieden zwischen den Provinzen des Reichs, von bitterarmen Randregionen bis zu den reichen Metropolen. Doch ich wusste nicht, welche gewaltigen Auswirkungen dies auf die soziologische und politische Situation in Wien hatte. Ich hatte im Kopf: Monarchie, der Kaiser befiehlt, alles geordnet. Weit gefehlt. Im Schatten des Kaiserhauses gab es ein Parlament, gab es Parteien, Wahlkämpfe und es gab Ideologien, die immer mächtiger und radikaler wurden.

Die Lagebeschreibung erinnert sehr an das, was wir heute aus den Medien erfahren: Die wohlhabenden Regionen (des k.u.k. Reichs) locken Menschen aus den verarmten Regionen (desselben Reichs) an, denn es besteht Reise- und Niederlassungsfreiheit. Diese reichsinternen Einwanderer sprechen andere Sprachen, beten zu einem anderen Gott. Die Monarchen verordnen Toleranz. Im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, dessen Besuch ich jedem Geschichtsinteressierten nur empfehlen kann, sind in einer Vitrine mehr als 20 Blätter mit dem k.u.k. Fahnenschwur in den offiziellen Sprachen des Reichs ausgestellt. In der Hauptstadt der Monarchie waren Regimenter aus allen Provinzen stationiert, jedes mit eigener Uniform, eigener Dienstsprache. Das führte zu alltäglichen Spannungen. So reagierten deutschnationale Wiener empört, als ungarische Husaren bei einer Demonstration für Ordnung sorgten.

Die Habsburger waren auch die Ersten, die mit dem so genannten „Toleranzedikt“ erstmals für eine vollkommene Gleichstellung der jüdischen Bürger sorgten. Wenn man es recht betrachtet, war die k.u.k. Monarchie mit ihrem multinationalen, multikulturellen Gefüge ein Vorläufer eines politischen Modells, das heute von der EU gepflegt wird. Ihr wichtigstes Merkmal ist eine von den Eliten vorgegebene Toleranz und Offenheit, die von einem Teil des Volkes mit zunehmender Aggressivität abgelehnt wird.

Die Parallelen zur Aktualität sind erschreckend: Hamann zitiert aus Parlamentsreden die Tiraden von Deutschnationalen, die sich von so viel fremdem Volk im Kernland der Monarchie bedroht fühlten. Man stellt fest, wie die Rhetorik von Jahr zu Jahr radikaler wird, wie die Barrieren des Akzeptablen erodieren, wie Hass und Ablehnung immer offener manifestiert werden. Genau diese Zunahme an der rhetorischen Lautstärke stellen wir heute fest, und genau wie in „Hitlers Wien“ führt die Brutalität der Sprache vorhersehbarerweise früher oder später zu Handlungen, zum physischen Austragen von Feindseligkeiten.

Alles das ist in „Hitlers Wien“ meisterhaft und mit dem kühlen, unhysterischen Blick der Historikerin beschrieben. Brigitte Hamann taucht nur dort auf, wo widersprüchliche oder verschwommene Informationen zu bewerten und interpretieren sind. Ansonsten lässt sie in beispielhafter Nüchternheit die Fakten sprechen, was dieses Buch umso potenter macht.

Dass Hitlers Familie einen jüdischen Hausarzt hatte, der während des Dritten Reichs den besonderen Schutz des Regimes genoss, und im Männerheim Freundschaft zu einem Juden pflegte, gehört zu den erhellenden Kuriositäten der Vita einer Persönlichkeit, die unser geschichtliches und politisches Bewusstsein bis heute prägt.

MEIN LIEBLINGSZITAT

… Im Februar 1908 kommt der damals 18-jährige Adolf Hitler in Wien an und sucht unmittelbar die Oper auf. Bei sich hat er den Empfehlungsbrief eines Freundes der Familie an den renommierten Kunstprofessor Alfred Roller, ein ideales Entreé, um als Künstler entdeckt zu werden. „Was dann geschieht, erzählt er später dem Wiener Gauleiter Eduard Frauenfeld: Mit Rollers Brief sei er ‚einmal bis zum Haus, dann habe ihn der Mut verlassen und er sei wieder umgekehrt. Nach inneren Kämpfen überwand er seine Schüchternheit, machte sich ein zweites Mal auf, kam bis ins Stiegenhaus, aber auch dann nicht weiter. Auch ein dritter Versuch misslang.‘ Denn eine ‚Person‘ fragte den schüchternen Jüngling, was er dort wolle. ‚Er aber suchte mit einer Ausrede das Weite und, um einen Ausweg aus dieser ständigen Aufregung zu finden, vernichtete er den Brief‘.“

Mit anderen Worten: Derselbe Adolf Hitler, der später vor hunderttausend Menschen sprach und kriegserfahrene Generäle in Angst und Schrecken versetzte, war als 18-Jähriger zu schüchtern, um mit einem Empfehlungsbrief an eine Tür zu klopfen. Nicht zu leugnen: Er muss ein Mensch gewesen sein.

NEBENBEI ERWÄHNT

Mit Hitlers Bemühen, die eigene Vergangenheit in seinem Sinn zu manipulieren, wird u.a. die von den Nazis angeordnete Schaffung des größten Truppenübungsplatzes Europas erklärt (Allensteig), ausgerechnet im kleinen Österreich, damals Ostmark. Denn eines der Dörfer, deren Bewohner umgesiedelt wurden, spielte in seiner Familiengeschichte wohl eine Rolle. Der Truppenübungsplatz besteht bis heute, von den Dörfern sind nur Ruinen erhalten.