Vor 16 Jahren begleitete ich Jaume Santandreu einen Tag lang in Can Gazá. Dieses Haus in einer ruhigen Wohngegend bei Palma de Mallorca, weit entfernt vom Trubel der Hauptstadt und den touristischen Sehens- und Erlebenswürdigkeiten, hat Mallorcas bekanntester Priester, danach Ex-Priester, schwul, mit einem Mann verheiratet, zu einem Zufluchtsort für Männer gemacht, die keine Hoffnung mehr hatten. Obdachlose AIDS-Kranke und Gescheiterte. Dort, das war ihm wichtig, wollte er auch sterben. Bei „seinen Leuten“. So ist es gestern geschehen.
Ich erinnere mich an das Abendessen, zubereitet mit Spenden von Supermärkten, die ihre Überbleibsel lastwagenweise herankarrten, und Privatpersonen. Ich saß am zentralen Tisch mit Jaume Santandreu und dem Verwalter von Can Gazá, heitere Diskussion, doch rund ums uns schweigende Männer mit gezeichneten, harten Gesichtern, ihren Blick auf Santandreu gerichtet, geduldig, diszipliniert, bis der das Essen segnete und aufgetragen wurde.
Als ich mich verwundert über die Stille in diesem Haus erklärte mir der Verwalter – ein Psychologe, der auch bei der Drogenhilfe „Projecte Home“ mitwirkte –, dass laute Worte in dieser Gesellschaft gescheiterter, süchtiger, kranker, gereizter Männer schnell zu Gewaltausbrüchen führen. Deshalb lautete die eiserne Regel in Can Gazá: kein lautes Wort.
Ich stelle mir Can Gazá am heutigen Tag ganz besonders leise vor. Santandreu war die Seele des Projekts. Eine Vaterfigur. Niemand ist unersetzbar. Doch manche hinterlassen eine Lücke wie ein kosmisches Schwarzes Loch.
Das Attribut „unkonventionell“ beschreibt diesen charismatischen und von breiten Teilen der mallorquinischen Gesellschaft und – kurioserweise und gerade – der „guten“ Gesellschaft verehrten Geistlichen nur ungenügend. Er fand immer jemanden, der aufgrund seines Reichtums helfen konnte und Santandreu zuliebe auch wollte, wie die Eigentümerin des hübschen Hauses mit dem großen Garten, nicht weit vom Landeskrankenhaus Son Espases, dieses Haus namens Can Gazá, ein Symbol für die Macht der Nächstenliebe, wenn man sie ernst nimmt.
Jaume Santandreu wusste auch um die Macht des Wortes. 2007 war die spanische Übersetzung seiner Autobiografie erschienen, in der er detailreich darüber erzählte, wie er als Kind von einem Geistlichen sexuell missbraucht wurde, wie dieser Missbrauch Teil eines Systems war. Ich lese, dass er sich mit der Kirche wieder versöhnt hat. Natürlich. Am Ende siegte bei ihm stets die Liebe.
Für meine Autoren-Homepage verfasste ich damals einen Text über das Buch, mit dem ich nie Geld verdient habe, weil es keine deutsche Fassung des Buches gab und ich für eine deutschsprachige Zeitung tätig war. Mir scheint, der Artikel sagt viel über diesen Mann, der das Menschsein über alles gestellt und Mallorca zu einem besseren Ort gemacht hat, nicht im Sinne von Fünf Sterne statt vier sondern im Sinne gelebter Nächstenliebe. Der spanische Titel lautet „Nacido Hombre“ (Als Mensch geboren). Ich habe den Text aus traurigem Anlass ausgegraben, um ihn zu ehren, diesen Menschen Jaume Santandreu.
Eine Kindheit auf Mallorca: „Nacido Hombre“
Erstmals hat der mallorquinische Armenpriester, Freelance-Jesusjünger und Medienliebling Jaume Santandreu keinen Roman geschrieben, sondern eine Autobiografie, konkret eine Schilderung seiner ersten zehn Lebensjahre. Genau das bereitet Unbehagen, riecht nach „Skandal“. Santandreu macht keinen Hehl daraus, dass die ersten 16 Kapitel seines Buches, und somit der Großteil davon, nur eine Vorbereitung auf jenen Abschnitt sind, auf den sich die Presse und zweifelsohne auch viele Leser zuallererst stürzen: Dort nämlich ist beschrieben, wie er als Neunjähriger in der namhaften Lasalle-Schule in Manacor von einem Geistlichen in die Freuden des Fleisches eingeführt wird und dabei so etwas wie eine „Liebesbeziehung“ entsteht.
Der „Rest“ jedoch, also die ersten 16 Kapitel von „Nacido Hombre“ (Als Mensch geboren), sind aus anderer Perspektive bemerkenswert. Mit der Schilderung einer „vollkommenen Kindheit“ führt Santandreu, ein versierter und mehrfach ausgezeichneter Literat, auf eloquente Weise eine Insel vor Augen, wie sie heute nicht mehr existiert. Wir lernen Jaume als Musterknaben der von Nonnen betriebenen Volksschule kennen, und begleiten ihn, wenn er mit acht Jahren seiner ersten Arbeit nachgeht: An jedem Werktag um sechs Uhr morgens macht sich der Knirps mit einem Eselkarren auf den Weg, um von den Höfen der Umgebung die frisch gemolkene Milch abzuholen und in die Molkerei zu bringen. Die detaillierte Schilderung seiner Erlebnisse als „Milchkutscher“ ist eines der Juwelen von „Nacido Hombre“.
Für unkundige Leser (sprich: ausländische Inselbewohner) erweisen sich die von Autor und Übersetzer gemeinsam erarbeiteten Kommentare am Ende eines jeden Kapitels als nützlich: Sie bieten Erklärungen zu historischen Hintergründen und vertiefen bzw. präzisieren Aspekte, die der Autor im literarisch Ungefähren belässt.
In der umfang- und anekdotenreichen Beschreibung der Verwandtschaft taucht ein Großonkel auf, Mateu Santandreu, eine bemerkenswerte Figur: Globetrotter, unangepasst, freiheitsliebend, unfähig zum soliden Lebenswandel. Man kann nur mutmaßen, inwieweit die letzte Begegnung den späteren Armenpriester programmiert hat: Als 13jähriger erkennt Jaume Santandreu in einem Gammler, der auf einer Parkbank liegt, seinen Verwandten Mateu, kann sich ihm jedoch nicht nähern, weil er unter Schweigebefehl in einer Reihe disziplinierter Seminaristen marschiert.
Ein anderes Erlebnis fällt in die Kriegszeit. Der kleine Jaume bekommt vom Horror – Manacor war Schauplatz eines falangistischen Massenmords – nichts mit. Doch eines Tages, als die Eltern die älteste Tochter mit den fünf anderen Kindern alleine zu Hause lassen, begegnen die Geschwister auf dem Feld einem Uniformierten. Die schreckstarren Kinder sind wehrlos, als der Bewaffnete die zweitälteste Schwester Santandreus zum Mitkommen „überredet“. Das Mädchen wird später von Jägern zurückgebracht, die den Mann mit dem Kind „hinter einem Busch“ überraschten. Die Jäger raten den Eltern dringend, in der Sache nichts weiter zu unternehmen, denn der Täter sei einflussreicher Falangist.
Auch das ein Schlüssel zum Verständnis des heutigen Revoluzzer-Priesters. Doch blitzt auch immer wieder jener respektlose Humor auf, den Santandreu sich leistet, weil „ich so fest an Gott glaube, dass ich in aller Ruhe Atheist sein kann“ (hier zitiert der Autor sich selbst, nämlich aus einem seiner zahlreichen Gedichtbände). Dass in seiner Familie Schlagfertigkeit genetisch bedingt sein könnte, lässt eine Anekdote über seinen Großvater ahnen. Als dieser im Morgengrauen eines klirrend kalten Wintertages den Pfarrer abholt, um ihn mit der Kutsche zur Kirche zu fahren, hüllt sich der Geistliche in etliche wärmende Gewänder und sagt am Ende der endlosen Prozedur: „Nun ist mir überall warm, nur nicht an der Nasenspitze.“ Worauf der frierende Kutscher erwidert: „Die könnten Sie mir in den Hintern stecken. Dann wäre Ihnen überall warm und mir überall kalt.“
“Nacido Hombre”, Jaume Santandreu, 2007. Die katalanische Originalfassung erschien 1997 unter dem Titel „Encís de minyonia“ (Zauber der Kindheit).
Das Foto entstand am Tag meines Besuchs im November 2009 in Can Gazá. Santandreu rührte in einem riesigen Kessel das Abendessen an und gönnte sich eine kurze Pause auf dem Balkon vor der Küche.