Vor ein paar Tagen veröffentlichte ich auf Instagram mein Posting Nummer 199 – ein Bild, das auf Menorca entstand. Im Oktober 2001 verbrachte ich zwei Wochen auf der Insel, um für eine Reportageserie zu recherchieren und fotografieren. Manche Themen erwiesen sich als mäßig ergiebig, andere hauten mich ganz unerwartet nieder. Die Steinbrüche von Líthica haben mich geplättet. Hier der Text, den ich vor rund 21 Jahren über diese irren Ort geschrieben habe.
Sandsteinpoesie
Menorcas “Líthica”: Manchmal reicht es, den Müll abzutragen, und ein Steinbruch verwandelt sich in einen Zaubergarten
Die Menschen kommen schon auf komische Ideen, und Franzosen überhaupt. Ursprünglich wollte Laetitia Sauleau Lara die Steinbrüche Menorcas nur für ihre Doktorarbeit studieren, und nicht retten. Am Ende war sie selbst nicht zu retten: Laetitia blieb auf der Insel hängen, verkliebte sich in die Steinbrüche und ist heute Präsidentin einer Steinbruch-Schutz-Vereinigung namens “Líthica”.
Der beste Weg, die Französin zu verstehen, führt über die alte Straße Ciutadella-Mahón. Sie biegen nach einem Kilometer links ab, ziehen bequeme Schuhe an und stürzen sich in ein Loch in der Erde, das den poetischen Namen “Pedreres de S’Hostal” trägt. Wenn Sie den Rundgang beendet haben, ist Ihr gesamtes Assoziationsarsenal, das vom Wort “Steinbruch” aktiviert wird, auf den Kopf gestellt. Wunde in der Landschaft? Vergewaltigung der Erde? Müllhalde? Staubspucker? “Líthica” und ihr Vorzeigesteinbruch bei Ciutadella beweisen, dass es auch anders geht. Magisch. Poetisch. Kulturell wertvoll. Die Steinbrüche der Insel bilden heute einen Teil der per Unesco-Beschluss geschützten “Biosphäre Menorca”.
Ob Steinbrüche anderswo dieselbe Bedeutung erlangen könnten, ist fraglich. Menorca stellt einen von der Geologie begünstigten Sonderfall dar. Denken wir uns eine Linie, die die Insel von Cala Morell bis Mahón längsseitig in zwei Zonen unterteilt. Im nördlichen Teil, genannt “Tramontana”, bestimmt altes Gestein die Oberfläche und kurioserweise wähnt man sich an manchen Orten in einer nordeuropäischen Landschaft. Der südliche Teil, genannt Migjorn”, ist praktisch eine durchgehende Kalksandsteinplatte.
Im Katalanischen wird der Kalksandstein “Marès” genannt, im Spanischen ebenso, nur der Akzent auf dem “e” neigt sich in die andere Richtung. Der Ursprung des Materials ist in diesem Wort enthalten: “Mar”, das Meer. Der Stein besteht zu 99 Prozent aus Meeresfossilien. Je näher man an der Küste buddelt, umso häufiger finden sich die Reste kleiner Meerestiere darin. Jedenfalls: im Migjorn mussten die Menschen nur ein Loch in den Boden schlagen, um an das Baumaterial für ihre Häuser zu gelangen. Davon profitierten schon die talayotischen Inselbewohner, sie hämmerten sich ihre Behausungen mit Vorliebe in den leicht zu bearbeitenden Marès-Untergrund hinein. Die größten und wichtigsten talayotischen Siedlungen befanden sich deshalb im Migjorn.
Die “Pedreres de S’Hort” betritt man durch ein schmuckes Besucherzentrum. Gleich dahinter gähnt der Abgrund. Auf Menorca sind die Steinbrüche unsichtbar, bis man vor ihnen steht. Manche sind sogar unterirdisch, weil die Steinbrecher härtere Steinschichten an der Oberfläche in Ruhe ließen und deshalb unter Tage den Marès abbauten. Einer dieser Sandsteinkavernen bei Mahón diente im Bürgerkrieg als Luftschutzbunker und Konzentrationslager. Auch nach dem Krieg ging es in den Steinbrüchen nicht eben romantisch zu. Maschinen hielten Einzug, aus den handgemeisselten Zaubergärten wurden symmetrische Monsterlöcher. Aber auch diese entwickeln, wie S’Hort beweist, ihre eigene Ästhetik. Vor allem, wenn sie nicht bis zum Rand mit Wohlstandsmüll gefüllt sind. Denn als diskrete Müllhalden oder Schuttablageplätze eignen sich die Steinbrüche der Insel hervorragend. Sogar das ist in S’Hort zu sehen: Nur einen Teil der Anlagen konnte die Vereinigung “Líthica” im Jahr 1994 anmieten und säubern und begehbar machen, ein beim Rundgang sichtbarer Teil dient bis heute als Schrottplatz. Das ist gut für die Landschaft, weil sich die Autowracks unsichtbar unter der Erdoberfläche türmen, aber schlecht für “Líthica”, weil die meinen, dass man Unesco-geschütztes Kulturgut nicht mit Schrott oder Schutt füllen sollte. Der Besucher von “S’Hort” kann sich sein eigenes Bild machen: Auf dem Weg zu den alten, noch per Hand bearbeiteten Steinbrüchen klafft plötzlich ein Spalt in der Landschaft, durch den ein Haufen Autos quillt.
Im alten Teil von “S’Hort” demonstriert “Líthica”, was tatsächlich mit vielen Steinbrüchen nach ihrer Stilllegung geschah. Vor der berüchtigten menorquinischen Zugluft geschützt entwickelt sich in den Gruben ein Mikroklima, das den Landwirten und Gärtnern der Insel nicht verborgen blieb. Haben es Obstbäume auf der Oberfläche der Insel aus windigen Gründen schwer mit Wachsen, Gedeihen und Blühen, so geht es ihren Kollegen unten im Steinbruch entschieden besser. Die Erde, die sich am Boden ansammelt, fällt nicht der Erosion zum Opfer, und der Sandstein rundherum saugt die Luftfeuchtigkeit wie ein Schwamm auf, um sie in trockenen Perioden wieder abzugeben. In “S’Hort” hat “Líthica einen botanischen Wanderpfad geschaffen. Der steinerne Zaubergarten ist von lieblicher Botanik erfüllt. Die bizarre Kulisse der Felsformationen in den alten Steinbrüchen kam zustande, weil die “Canteros” jeweils den weichsten Gesteinsschichten nachmeisselten. Diese Ästhetik geht später verloren, weil sich Maschinen ohne Skrupel kerzengerade in den Stein hineinfressen.
Das eigenwillige Verhalten des Marès ist jedem bekannt, der schon mal ein altes balearisches Haus renoviert hat oder nach einem Wasserrohrbruch den innigen Wunsch verspürt, es endlich zu tun. Marès ist porös und reagiert auf seine Umgebung. Wird der Stein der Sonne ausgesetzt, beginnt das aufgesogene Wasser in ihm zu arbeiten und hinterlässt beim Verdunsten einen salzigen Abschiedsgruß. In anderen Fällen – das habe ich aus einem prächtigen Buch namens “Pedreres de Marès” – bilden sich Säuren und schlagen hässliche Pockennarben, wofür die Säulen der Kathedrale von Ciutadella ein spektakuläres Beispiel sind. Dann gibt es einen aus Richtung Südost blasenden Wind, genannt “Llebeig”, der den Marès zu Sand zerbröseln lässt.
Gegen diese widrigen Umstände schützte die traditionellen Architektur die Marèswände, indem man sie einkalkte. Richtig verwendet ist der Sandstein ein gutes Baumaterial, das Häuser im Sommer kühl, im Winter warm hält. Aber als die Modernität hereinbrach und die andalusische Völkerwanderung bis nach Menorca schwappte, war die Insel plötzlich voller Bauarbeiter, die Marès weder kannten, noch viel davon wissen wollten. Dafür wurde Zement herangekarrt, womit schneller, billiger und hässlicher gebaut werden kann, kurz: ideal für eine Gesellschaft, deren Aufmerksamkeitsspanne bereits mit der Stoppuhr gemessen werden muss. Der charaktervolle Stein kam außer Mode.
In den “Pedreres de S’Hostal” wurde bis 1994 Marès abgebaut, seither dient die Anlage als Pilotprojekt für ähnliche Vorhaben auf der ganzen Insel. Über zweihundert Mitglieder zählt die Vereinigung “Líthica” heute, und neben Triumphen wie die Wiedergeburt der “Pedreres de S’Hostal” erlebten die Steinbruchfans auch schmerzhafte Niederlagen. So liegt einer der berühmtesten Steinbrüche Menorcas, “Sa Cova de sa Pólvora” in Ciutadella, wo vermutlich die Blöcke für den Bau der Kathedrale aus dem Boden gehauen wurden, heute unter einem Appartementblock begraben.