Jeder Zentimeter kostet Schweiß. Aber einige Glückspilze fanden so verblüffend lockeres Erdreich vor, dass es in der Bar von Ses Salines im Süden Mallorcas zum Konversationsthema wurde. Der Archäologe Bauzá sprach mit den Dorfbewohnern und markierte auf einem Ortsplan jedes Gebäude, von dem bekannt war, dass der Boden „weich” war. Am Ende der Übung bildeten die markierten Häuser ein Quadrat von 100 Meter Seitenlänge. Der Verdacht des Professors wurde zur Gewissheit, als er bei einem Bauprojekt erstmals die Ursache für das Phänomen erkannte: einen Graben, der mit Erdreich und Schutt gefüllt war. Das Vermessen war reine Formsache. Dreieckige Schnittform, drei Meter tief, oben drei Meter breit. So sahen die Palisadengräben römischer Militärlager aus, genormt wie Ikea-Regale.
„Für mich ein starkes Indiz dafür, dass die Römer Mallorca von Süden aus eroberten”, sagt Bauzá. Es Trenc war schon damals ein Traumstrand, nämlich für militärische Anlandungen, und mit den einzigen Salinen der Insel stand auch gleich ein wichtiger Rohstoff zur Verfügung. Die Ergebnisse seiner Studien schickte der Professor an einen Archäologenkongress in Granollers. Doch während sich die Hinweise häufen, dass die Region um Ses Salines zur Römerzeit eine wichtige Rolle spielte, bleibt eines der großen Rätsel der Inselarchäologie ungeklärt: War das nur ein Brückenkopf oder befand sich hier auch die Stadt Guium?
Die Auskunft des Chronisten
Plinius gibt darauf keine Antwort. Ihm verdanken wir immerhin, dass man überhaupt die Frage stellen kann. Der Offizier, der als „Plinius der Ältere” bekannt ist und beim Ausbruch des Vesuvs ein dramatisches Ende fand, war ein großer Intellektueller und verfasste vor fast 2.000 Jahren die „Naturalis Historia”. In diesem enzyklopädischen Werk gab er unter anderem über die Geografie des Römerreichs Auskunft. Im Abschnitt über die Balearen erwähnte er neun Städte, die es damals auf den Inseln gegeben habe. Sieben davon sind bekannt: auf Mallorca Palma, Pollentia (das heutige Alcúdia) und Bocchoritana oder Bocchores (zwischen Pollença und Port de Pollença), auf Menorca Iamo (Ciutadella), Sanisera (am Cap de Cavallería) und Mago (Maó), sowie auf Ibiza Ebusus (Ibiza-Stadt).
Daneben erwähnt Plinius zwei Namen, die noch auf keiner Landkarte auftauchen: Guium und Tucis. In der Hierarchie der balearischen Städte waren sie unterhalb von Pollentia und Palma angesiedelt, jedoch oberhalb aller anderen: Bocchoritana war eine „föderierte Stadt”, also eine spättalayotische Siedlung, die sich mit den Römern arrangiert hatte und Tribut zahlte, jedoch keiner direkten römischen Verwaltung unterstand.
Und wenn diese Quellen unzuverlässig waren? Oder wenn sich Übertragungsfehler eingeschlichen hatten? Hier nun betritt Gavio Amethysto die Szene, ein Kronzeuge nicht nur für die Existenz einer der beiden verschollenen Städte, sondern auch für deren Rang. Amethysto war ein VIP: Herkunft aus guter Familie, steile Karriere, wichtige Posten in der Verwaltung. In Palma war der Mann so angesehen, dass man ihn einbürgerte. Danach machte der Balearen-Römer in Tarraco Karriere, dem heutigen Tarragona. Und nachdem er gestorben war, überdauerte eine Inschrift zu seinen Ehren beinahe 2.000 Jahre.
Die Steinplatte mit dieser Inschrift, ausgegraben in eben jenem Tarragona, wo Amethysto seine Karriere beendete, belegt nach Überzeugung der Archäologen jenseits aller Zweifel, dass es auf der Insel eine Stadt gab, die Guium hieß, oder so ähnlich. Denn Amethysto wird in dem Text als „Palmensis” und „Guiuntana” bezeichnet, ein Mann aus Palma und Guium.
„Wer damals einen wichtigen Posten bekleidete, stammte zwangsläufig aus einer reichen Familie”, erklärt Margarita Orfila. Die menorquinische Archäologin ist stellvertretende Leiterin der aktuellen Grabungskampagne in Pollentia. Die Inschrift aus Tarragona ist für sie ein Beleg, dass Guium bedeutend war, sonst hätte man den Namen der Stadt gar nicht eingemeißelt, schon gar nicht an der Seite von Palma, und sonst wäre dort keine Familie beheimatet gewesen, deren Reichtum eine glänzende Karriere ermöglichte.
Grabplatte als Souvenir
Lag Guium also in Ses Salines? Einiges spricht dafür. Die größte römische Nekropolis der Insel wurde hier Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt. Der Fundort wurde längst vom Dorf überwuchert, mancher Einwohner zählt eine Grabplatte zu seinen privaten Schätzen, doch keine der rund 50 entzifferten und analysierten Inschriften enthält das Wort Guium. Auch römische Keramik wurde reichlich gefunden, und in der Grundstücksverteilung schimmert bis heute das römische Feldmaß durch, die Centuria, was rund 55 Hektar entspricht.
Doch kein einziger schlüssiger Beweis liegt vor. Das lässt Spielraum für andere Theorien, zum Beispiel die von Javier Aramburu. Der Archäologe und Buchautor lehrte bis 1998 an der Balearen-Universität und spielt seit seinem Abschied im Streit das Enfant terrible des Forscher- Establishments. Eigentlich ist er Spezialist für die vor der römischen Eroberung blühende talayotische Kultur. Doch nachdem die Ureinwohner mit den Römern über Jahrhunderte hinweg koexistierten, hat Aramburu auch zur römischen Herrschaft und zu Guium seine eigenen Gedanken entwickelt.
Konkret hat ein Hügel bei Alcúdia seine Aufmerksamkeit erregt. Dort lag früher ein riesiges arabisches Anwesen, Guieyent, ein Name, in dem möglicherweise das Wort Guium widerhallt. Haufenweise römische Keramik sei aus dem Boden geholt worden, doch die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um die gesuchte Stadt handelt, beziffert Aramburu trotz zahlreicher Indizien – auch hier wurden Reste der römischen Parzellenteilung beobachtet – vorsichtig mit 25 Prozent.
Guium und Tucis waren keine römischen Gründungen. Beide gab es bereits, als Caecilius Metellus 123 vor Christus auf Mallorca landete, sie waren blühende spättalayotische Siedlungen. „Das Imperium ging mit den unterworfenen Völkern ziemlich respektvoll um”, sagt Margarita Orfila. „Guium und Tucis hatten eine starke eigene Identität, die unter der römischen Herrschaft erhalten blieb. Es ist gut möglich, dass die Überreste dieser Siedlungen nichts von dem offenbaren, was wir unter einer römischen Stadt verstehen.”
Darum gebe es bis heute kein Projekt, die verschollenen Siedlungen ausfindig zu machen. „Wahrscheinlich wird das Rätsel durch einen Zufallsfund gelöst werden”, meint Orfila. „Eine Steinplatte mit einer Inschrift kommt ans Licht und verrät uns, wo Guium und Tucis gelegen haben könnten. Und möglicherweise wird es sich um eine längst bekannte talayotische Siedlung handeln.”
Also keine gepflasterten Straßen, keine römischen Villen, keine Säulen, keine Statuen. Zwei größere „Eingeborenendörfer”, die sich rasch an die neuen Herren gewöhnen und dafür mit Privilegien beschenkt werden. Obwohl: In Ses Salines hat sich die Bevölkerung seit jeher aus Steinhaufen bedient, die imperiale Bauten gewesen sein könnten, ein Indiz dafür, dass die Anwesenheit der Römer im Süden weit über die Errichtung eines Militärlagers als Brückenkopf für die Eroberung der Insel hinausging. Auch der Fund eines römischen Schiffes auf dem Meeresgrund vor dem Hafen von Colònia de Sant Jordi legt nahe, dass der Süden in der römischen Herrschaftszeit Bedeutung genoss.
Und die Namen? Wieder ein Rätsel, zumindest was Guium betrifft. Im ganzen Mittelmeerraum finden die Historiker keinen ähnlichen Ortsnamen. Tucis hingegen hatte zahlreiche Schwestersiedlungen, sie trugen Namen wie „Tuccius” und „Tuccia” und lagen in Italien, Gallien (Frankreich) und Afrika.
Tici, Tuze, Tucis?
Wo aber befand sich das mallorquinische Tucis? Hier liegt ein konkreter Verdacht vor, auch wenn die Archäologen noch keinen genauen Punkt auf der Landkarte markieren konnten: Irgendwo zwischen Petra und Manacor könnte das von Plinius erwähnte Städtchen gelegen haben. Zahlreiche Spuren der römischen Besiedlung, darunter die frühchristliche Basilika von Son Peretó, aber auch Ortsbezeichnungen wie Tici in Felanitx und Tuze in Petra sind ein Hinweis. Bei Petra war es auch, wo eine römische Inschrift ans Licht kam, unvollständig leider, ausgerechnet beim Wort TUCI bricht sie ab und lässt somit keine eindeutigen Schlüsse zu.
Bleibt die Frage, warum ausgerechnet von den Römern, dieser herausragenden Zivilisation, diesen begnadeten Baumeistern, auf Mallorca so wenig geblieben ist. Aramburu wartet mit einer originellen Antwort auf. „Wenn ich nach römischen Siedlungsresten suche, orientiere ich mich an den talayotischen Fundstätten, die ungefähr drei Kilometer auseinanderliegen, normalerweise auf Hügeln. Die Römer haben sich genau dazwischen niedergelassen, in der Ebene, auf fruchtbarem Boden.” Und genau darin liegt der Fluch für die Archäologen: Was die Römer außerhalb der von ihnen gegründeten Städte Pollentia und Palma hinterließen, wurde zwei Jahrtausende hindurch von Bauern umgepflügt.
Mallorca war wohl keine reiche Provinz. Laut Aramburu liegen keine Hinweise auf Exporte vor, keine einzige Amphore sei gefunden worden, die aus Mallorca stammt, und keine einzige römische Villa mit Mosaikboden wurde bisher ausgegraben. Dass von der weit älteren talayotischen Kultur mehr geblieben ist als von den raffinierten Römern, hat laut Aramburu allerdings auch einen sehr profanen Grund: „Die haben mit größeren Steinen gebaut.”
Dennoch dürfte Mallorcas Boden noch einige Reste des römischen Imperiums in sich bergen. Historiker schätzen, dass von Pollentia, Mallorcas bedeutendster Römerstadt, nicht mehr als zehn Prozent freigelegt sind, und auch der Umfang des römischen Palma ist noch immer unbekannt. Wenn man wissenschaftliche Genauigkeit anwendet, ist selbst der Standort des römischen Palma nur eine Vermutung. Die Stadt trug jahrhundertelang andere Namen, „Madina Mayurqa” unter der 300-jährigen islamischen Herrschaft und „Ciutat” nach der katalanischen Eroberung. Dafür, dass das römische Palma mit dem jetzigen identisch ist, gibt es bis heute keinen handfesten Beweis. Guium und Tucis sind insofern nur zwei von vielen Rätseln, die das Alte Rom auf Mallorca hinterlassen hat.
Veröffentlich im Februar 2008 in der Mallorca Zeitung. Das im Artikel angesprochene Rätsel ist bis heute ungelöst.
Das Bild zeigt einen erhaltenen Abschnitt der Römerstraße zwischen Santa Maria del Camí und Alaró im Inselinneren.