La Antigua Guatemala – „Die Alte“
Romantik einer Trümmerstadt
Zeugnis einer großen Katastrophe und einer einstmals blühenden Epoche
Seit dem 29. Juli 1773 steht in La Antigua die Zeit still. Das verheerende Beben dieses Schicksalstages ließ von der prächtigen barocken Hauptstadt Guatemalas ein Trümmerfeld zurück. Die Regierung verlegte ihren Sitz ins heutige Guatemala Citz, die zerstörten Klöster und Kirchen wurden nie wieder aufgebaut.
Heute ist der neue Teil von Antigua eine wohlhabende Stadt, die hauptsächlich vom Tourismus lebt. Denn die gewaltigen Barockruinen der alten Stadt wurden seit 1773 unverändert belassen.
Was die Geschichte aus Naturkatastrophen machen kann, wird nirgendwo deutlicher als in dem von Erdbeben mehrfach schwer betroffenen Antigua. Nach den jüngsten Bebenkatastrophen von Mexiko, Armenien und anderen Orten von trauriger Berühmtheit, die Fernsehbilder von unendlichem menschlichen Leid vor Augen, erscheint es fast zynisch, in welch romantischen Farben die „Ruinenstadt“ von Reisenden und Reiseführern gemalt wird.
Historische Umstände jedoch haben aus Antigua einen Sonderfall gemacht. Dies und der Abstand der Geschichte machen es möglich, in den barocken Ruinen etwas anderes zu sehen als gigantische Grabsteine, unter denen noch heute Tausende Opfer der damaligen Naturkatastrophe begraben liegen.
Dabei liegt das letzte Unglück noch keine 13 Jahre zurück: 1976 mischte ein Erdbeben, das in der Hauptstadt Guatemala City für Verheerungen sorgte, auch die Ruinen der heute von 30.000 Menschen bewohnten Stadt noch einmal kräftig durch. Ein Beweis dafür, auf welch unruhigem Boden Antigua von seinen Gründern errichtet wurde.
Sich zur Fremdenverkehrsattraktion zu mausern, war trotzem wohl das Beste, was der Bebenzone passieren konnte. Die Neustadt ist heute sichtbar reich. Malerische Hotels, gut beworbene Spanisch-Schulen für Ausländer, ein fremdenfreundliches Klima – all das eine halbe Autostunde von der nicht sehr attraktiven, geschäftigen, modernen Hauptstadt Guatemala City entfernt.
Ruhelose Hauptstadt
Teure europäische Autos markieren den Reichtum äußerlich. Eine herrliche Umgebung tut das ihre, um Antigua zu einer der bestbesuchten Städte Guatemalas zu machen. Viele Fremde lassen sich sogar für immer hier nieder. Der Bürgerkrieg zwischen Ladinos und Indios, der Guatemala zu einer permanenten Krisenregion macht, spielt sich in ausreichender Distanz ab.
So schnell sind Katastrophen vergessen. Dabei ist die Geschichte der guatemaltekischen Hauptstädte eine einzige Serie von Tragödien.
1524 scheitert der grausame spanische Conquistador Pedro de Alvarado mit der Gründung einer Hauptstadt in den frisch eroberten Ländern beim heutigen Tecpán Guatemala, östlich des Atitlán-Sees. „Santiago de los Caballeros“ genannt, wird die Hauptstadt drei Jahre später in das Amolongotal verlegt.
1541 spielt sich dort eine ähnliche Naturkatastrophe ab wie unlängst in Kolumbien: Ausgelöst durch einen vulkanischen Ausbruch, vernichtet eine Schlammflut die gerade erst gegründete Metropole. Wieder sucht man einen neuen Standort und entscheidet sich für das nahegelegene Panchoytal.
Schon vor dem Unglück des Jahres 1773 wurde die Stadt mehrere Male von Erdbeben heimgesucht. Einige Monumente, so weiß die Chronik, wurden bis zu acht Mal neu erbaut. Schwere Erdstöße zerstörten 1717 einen großen Teil der Stadt, doch erneut beschlossen die Herrscher, die alte Pracht wiederherzustellen.
Dann kam jener 29. Juli 1773, der Tag, an dem „Santiago de los Caballeros“ zu existieren aufhörte. Ein apokalyptisches Beben, stärker als alle vorangegangenen, ließ die bewußt solide gebauten Klöster und Kirchen der herrlichen Barockstadt zusammenstürzen wie Kartenhäuser.
Unter dem Schock der Tragödie beschloß die spanische Krone, Santiago umgehend zu verlassen und eine neue Hauptstadt zu gründen – das heutige Guatemala City. Aus Santiago wurde „La Antigua“, „Die Alte“.
Obwohl Antigua nicht von allen verlassen wurde, haftete ihm bald das Attribut einer romantischen Geisterstadt an. Denn nur ein Bruchteil der zerstörten und schwer beschädigten Sakralbauten wurde wiederhergestellt. Den Rest ließ man, wie er war. Die mächtigen, tonnenschweren Trümmer von Fassaden, Bögen, Mauern und Säulen liegen noch heute dort, wo sie von den gewaltigen Erdstößen des Jahres 1773 hingewirbelt wurden.
Ruinen als Museen
Die Zerstörungen wirken umso beeindruckender, als die Hauptstadt über die Jahrzehnte ihrer Geschichte zwangsläufig einen immer robusteren Baustil entwickelt hatte. Massivere Mauern, breitere Konstruktionen und niedrigere Türme sollten die einst schönste Barockstadt Amerikas vor Erdbeben schützen. Vergeblich.
Trotzdem blieb die Architektur elegant-barock, zauberte mit optischen Tricks einen Hauch von Leichtigkeit in die tonnenschweren Gemäuer.
Mit Kopfsteinpflaster und Fingerspitzengefühl erhielten die Bewohner von Antigua den kolonialen Charakter der Stadt bis heute. Und obwohl das Panorama der Umgebung von Vulkanen beherrscht wird, hat niemand Angst vor einer neuen Katastrophe.
Die Ruinen sind als geschützte Museen oder in praktischer Verwendung (als Volkskunstmarkt etwa) selbstverständlicher Teil der Landschaft. Erdbeben – das ist Geschichte.
Text und Fotos: Thomas Fitzner
präsent Magazin, 17. August 1989