„The Last Valley“ von Martin Windrow

Immer wieder nimmt die Neugier Überhand: Ein wichtiges Ereignis der Geschichte, der Name bekannt, jedem gebildeten Menschen ein Begriff, doch über das Schlagwort hinaus habe ich keine Ahnung, was dahintersteckt. Was ist damals wirklich im Detail passiert und warum? So ging es mir mit Dien Bien Puh. Alle Welt weiß, dass eine Kolonialarmee dort gegen die Vietminh eine böse Niederlage einsteckten, das „Stalingrad der Franzosen“. Die Episode hat jedoch über die Geschichte Vietnams und Frankreichs hinaus Bedeutung: Erstmals in der modernen Geschichte besiegte eine Truppe der Dritten Welt die Armee eines westlichen Industriestaats in einer offenen Feldschlacht. Ein Wendepunkt der Militärgeschichte und ein Signal, dessen korrekte Lektüre den USA ein traumatisierendes Debakel erspart hätte.

Oder zwei.

Unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse in Afghanistan fragt man sich, ob eine so gut ausgestattete Militärmacht wie die US-amerikanische kein Geld für Historiker hat, die Fehlschläge der Vergangenheit analysieren und Schlüsse für die Zukunft ziehen können. Wer immer die Intervention in Afghanistan angeordnet hat, er hat dieses Buch nicht gelesen, und hat nicht auf Leute gehört, die es gelesen haben.

Mein Weg zur Buchhandlung lohnte sich, denn mit „The Last Valley“ verschlang ich in den folgenden Wochen eine der besten historischen Dokumentationen meiner Bibliothek. Nebenbei fand ich die Bestätigung für eine Information, auf die ich bei der Recherche für ein Buch über das Luxushotel Castillo Hotel Son Vida in Palma de Mallorca gestoßen war. Richtig gelesen: Dieses Indochina-Kriegsbuch hat einen Bezug zur friedlichen Balearen-Insel. Erklärung am Schluss.

Der Autor ist ein auf Militärgeschichte spezialisierter britischer Publizist und Verleger. Mit „The Last Valley“ lieferte er sein Meisterstück ab. Ein Kritiker von „The Times“ schwärmte sogar, er werde nie wieder ein besseres Buch lesen. Klingt wie eine Übertreibung, aber als ich auf der letzten Seite dieses einschließlich Anhänge 734 Seiten starken Wälzers ankam, hatte ich beinahe das Veteranen-Feeling, als hätte ich diesen Part des Indochina-Kriegs selbst durchlebt.

Neben einer exzellenten Schreibe besitzt Windrow die Fähigkeit, keine Frage unbeantwortet zu lassen, die sich dem Leser stellt, und gerade das a priori Unverständliche besonders gut zu erklären. Die große Frage lautet natürlich: Wie schaffte es eine Armee ohne Flugzeuge, ohne motorisierte und gepanzerte Verbände, nur mit Kanonen und Infanterie – also Männer mit Gewehren, Punkt – eine hochgerüstete Streitmacht zu besiegen, die alles hatte, was die Technologie in den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts aufzubieten hatte.

Windrow geht jedoch einen Schritt weiter. Unter anderem beschreibt er die psychologische Situation der französischen Kolonialarmee zu jenem Zeitpunkt. Einer der interessantesten Aspekte ist deren innerer Spannungszustand aufgrund der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, als es aufgrund eines strategischen Schachzugs von Adolf Hitler zu Gefechten zwischen Franzosen kam. Ein wenig bekannter Umstand, den ich in meinem Roman „Das Geheimnis von Chateau Limeray“ zum Bestandteil einer tragischen Familiengeschichte machte.

Zur Schlacht selbst: Die Franzosen hatten eine Methode entwickelt, um die Armee von General Giap im hügeligen Norden Vietnams zu bedrängen. Mit Luftlandungen errichteten sie quasi über Nacht tief in feindlichem Territorium eine Basis, von der aus die Umgebung von Guerillas „gereinigt“ wurde, unterstützt von Artillerie und Kampfflugzeugen. Das funktionierte einige Male ganz gut, bis Dien Bien Puh, dem „letzten Tal“. Dort flog die Kolonialarmee sogar Panzer ein, in Teile zerlegt, dann zusammengebaut. Eine mächtige Artillerie, eingegraben im Tal, sollte dafür sorgen, dass sich kein Vietminh unbeschadet in die Nähe wagen konnte.

Doch Giap hatte aus den vorhergehenden Niederlagen gelernt und eine Gegenstrategie entwickelt. Irgendwann war die Basis – ein großflächiges System aus mehreren Stützpunkten, sogar mit eigenem Flugplatz – von den Vietminh umzingelt. Die Franzosen konnten das Umland noch so viel beschießen und bombardieren, die Guerilla blieb auf dem Posten und arbeitete sich näher, Meter für Meter, indem sie schützende Gräben vorantrieb. Dazu kam ein zermürbendes Feuer aus Kanonen, von denen niemand wusste, wie sie in die unwegsamen Urwaldhänge gekommen waren und wie sie den Luftangriffen und Artilleriebombardements der Franzosen widerstanden.

Es ist eine epische Erzählung, die in diesem Detail möglicherweise nur Leser interessieren wird, die ein Faible für Militärgeschichte haben. Obwohl: Windrow schreibt nicht für Experten, er hat die breite Leserschaft im Blick. Wen der Stachel der Neugier piekt, wie das damals wirklich war in Dien Bien Puh, ist mit „The Last Valley“ exzellent bedient. Meines Wissens nur im englischen Original verfügbar.

MEIN LIEBLINGSZITAT

… ist ebenfalls ein Zitat. Windrow stellt es dem Kapitel über die vietnamesische Volksarmee voran. Es stammt von J.C.Cremony, der in seinem Buch „Life among the Apaches“ (1886) sagt: „The Apache never attack unless fully convinced of an easy victory. They will watch for days, scanning your every movement, observing your every act; taking exact note of your party and all its belongings. Let no one suppose that these assaults are made upon the spur of the moment by bands accidentally encountered.”

NEBENBEI ERWÄHNT

Die Mallorca-Connection: Im Jahr 2005 beauftragte mich die Direktion der Schörghuber-Hotels auf der Insel mit einem Buch, das zum 50-jährigen Jubiläum des traditionsreichen Castillo Hotel Son Vida erscheinen sollte. Bei den Recherchen im Archiv der Hotelgesellschaft fand ich heraus, dass einer der Gründer angeblich ein ehemaliger „Flying Tiger“ gewesen war, d.h. Pilot bei einer CIA-Tarnfirma, die u.a. in Fernost aktiv gewesen war. Dieser Veteran namens Steve Kusak behauptete, er habe am letzten Versorgungsflug für die in Dien Bien Puh eingeschlossenen Franzosen teilgenommen. Tatsächlich: Im Index von „The Last Valley“ stieß ich auf seinen Namen und auf Seite 597/598 fand ich eine Beschreibung von Kusaks Flug mit Abwurf von Nachschubpaketen unter dem Beschuss der Vietminh.